Gute IA-Studenten und informierte Europäer wissen, dass Maastricht quasi die Geburtsstadt der EU ist. Auch heute sind die ansässige Uni und die Union eng verbunden. Als einziger HSGler nahm ich am Student Forum Maastricht 2011 teil – als neuer Mensch kehrte ich zurück. Ein Reisebericht.
Es hat für mich sehr unerquicklich angefangen. Mein ansässiger Host namens Chiel outete sich als geistloser Dilettant. Nicht nur, dass er zu meiner geplanten Ankunftszeit am Montagmorgen leider nicht zu Hause sein konnte, da er länger bei seinen Eltern verweilen wollte. Der gute Junge hatte auch noch sein Handy im Zug verloren und ich hatte keine andere Kommunikationsmöglichkeit, als meine Mails, die er ausgesprochen sporadisch beantwortete. Der nächste Schock kam, als ich feststellte, dass er nicht nur jenseits der Maas, sondern auch noch so richtig in der Pampa wohnte.
Mein Host und ich
Von ansässigen Studenten erntete ich, auf die Wohngegend angesprochen, nur einen halb amüsierten, halb mitleidigen Blick und die Aussage: «Also in der Gegend bin ich ja noch nie gewesen» In der Tat lag Chiels trautes Heim sechs Kilometer von der Uni entfernt (wobei es erwähnenswert ist, dass man sich in Maastricht für gewöhnlich auf Fahrrädern fortbewegt und aus diesem Grund das Nahverkehrsnetz leicht unterentwickelt ist). Als ich dann abends abgekämpft vor seiner Haustür stand – einmal hatte ich mich auf der Strecke kurz verfahren und beim Wenden auf dem Feldweg fast eine Katze überrollt – passierte nach mehrmaligem Klingeln erstmal gar nichts. Dieser Chiel ist ein richtiger Sparfuchs, dachte ich mir beim Betrachten der umliegenden Häuser. Ich klingelte erneut und plötzlich rumorte es im Haus. Es folgte eine Diskussion auf Niederländisch hinter verschlossenen Türen. Dann schliesslich trat ein junger Mann in Jogginganzug vor die Tür. Nach einer unherzlichen Vorstellungsrunde führte er mich irritiert vier Stockwerke innerhalb der Wohnung nach oben vor eine verschlossene Tür, wo ich erfuhr, dass der Gesuchte nicht zu Hause sei. Ich sollte ihn doch mal anrufen. Schwierig, wenn der Anzurufende kein Handy mehr besitzt. Ich wartete eine halbe Stunde auf dem Flur und konnte mir in dieser Zeit telefonisch ein Mitleidsbett für diese Nacht bei den Studenten organisieren, die ich zuvor auf die Wohngegend meines eigentlichen Hosts angesprochen hatte. Noch mal Glück gehabt, dachte ich mir. Doch es sollte nicht die letzte Nacht sein, in der ich ohne Bett da stand.
Alles anders
In einer Woche auf einem Studentenforum in Maastricht kann man viel erleben. Als St. Galler Student wusste ich ja schon einiges von studentischen Foren. Zwischen Grüner Bibel und LWA-Kurs erfährt man spätestens in der ersten Woche, dass wir hier sozusagen die Ur-Mutter aller Studentenkongresse beherbergen. Meine Erwartungen waren also vorgeprägt und ich rechnete mit einem Haufen an Leaders of Tomorrow in Designeranzügen und mit penibel frisierten Haaren, intensiver Präsenz diverser altbekannter Unternehmen und machte mich wohl oder übel bereit zum gängigen Networking. Ich war bereit, Rednern aus der Wirtschaft zu begegnen, die wenig zu sagen hatten und nur für dezentes Headhunting und Socializing vorbei schauen wollten. Ich war bereit für Sponsoren, denen die Grösse und Platzierung ihres Logos wichtiger ist, als die Art der Veranstaltung und der Nutzen für die Teilnehmer. Und ich war ausserdem bereit für eine letztendlich doch irgendwie interessante und bereichernde Veranstaltung. Was Letzteres anbelangt: Ich bekam mehr als das. Was den Rest anbelangt: Zum Glück kam alles anders.
Stadt und Universität
Sehr ungewöhnlich habe ich die enge Zusammenarbeit von der Stadt Maastricht und der Universität erlebt. Bereits die Opening Ceremony fand in einem altehrwürdigen Raum des Rathauses statt und ein Abgeordneter der Stadt begrüsste uns persönlich. Nach diversen Grussworten und Einführungen in die Veranstaltung, sponserte die Stadt Maastricht dort noch ein reichhaltiges Dinner. Ich war überrascht: In St. Gallen hatte ich in zwei Jahren genau in zwei Fällen Kontakt mit der Stadt. Nämlich nach einem Parken im Parkverbot und beim Abholen meines Ausländer- Duldungsausweises. Auch im weiteren Verlauf liessen sowohl Veranstalter sowie ansässige Studenten als auch Einwohner erkennen, dass man stets willkommen war und die Universität zur Stadt dazu gehört. Ein seltsam neues Gefühl für mich.
Leaders of Tomorrow in Jeans und T-Shirt?
Ein zweites überraschendes Moment bildeten die zahlreichen Teilnehmer, die spätestens am zweiten Tag den unbequemen Anzug zu Hause liessen und sich vernünftig anzogen. Es war ein komisches Gefühl, plötzlich unter Studenten zu sein und nicht mehr unter Möchtegern in spe. Überhaupt schaffte es der Kongress, eine angenehme und vor allem konspirative Atmosphäre zu schaffen, in der einmal nicht «Wer bist du und von welcher sagenhaften Elite-Uni kommst du?» gefragt wurde, sondern stets das «Was kannst du, was weisst du, was interessiert dich und was hast du zu sagen» im Vordergrund stand. Auf diese Weise kamen Diskussionen von unerwarteter Tiefe zustande, die teils noch lange in unserer Freizeit fortgesetzt wurden.
Es geht auch ohne
Ein Blick in die Forums-Broschüre verriet es mir schnell: Offensichtlich kam die gesamte Veranstaltung ohne Gelder aus der Privatwirtschaft aus. Die daraus resultierende Unabhängigkeit spiegelte sich auch in der Auswahl der Redner und der Qualität und dem Inhalt der Vorträge wider. Statt inhaltsleerem Unternehmensplacement begegneten mir sachverständige und veranstaltungsbezogene Reden sowie mitreissende Paneldiskussionen jenseits des Versuchs, die Achievements der Redner oder einzelner Institutionen in den Vordergrund rücken zu wollen.
Merci, Maastricht
Die Zeit in Maastricht hat mir einmal mehr gezeigt, wie wichtig es ist, auf dem Boden zu bleiben und wie gefangen und schmalsichtig die Business-Welt manchmal in unserem Studentenalltag sein kann. Nicht zuletzt auch das inhaltliche Vorankommen hat mich an diesem Forum überzeugt und ich glaube, dass die Tiefe neuer Ideen und Tendenzen in der Europäischen Weiterentwicklung nur mit dieser besagten Machart des Kongresses möglich waren. Ich jedenfalls habe viel mitgenommen. Fachlich über die Europäische Union, menschlich aufgrund der tollen Teilnehmer und Organisatoren und grundsätzlich darüber, wie ein solcher Kongress effektiv sein sollte. Und vielleicht, dass man sich nur als Host bewerben sollte, wenn man das auch wirklich will.
Nein, Maastricht ist tatsächlich nicht St. Gallen. Und das ist auch gut so. Merci Maastricht für eine tolle Woche, es war mir, wie man hierzulande zu sagen pflegt, «eine Freude und Ehre zugleich»!
Student Forum Maastricht (SFM)
Das SFM ist ein jährlich in Maastricht stattfindendes Forum mit studentischen Teilnehmern aus der ganzen Welt. Ziel der fünftägigen Veranstaltung ist es, die jüngsten Entwicklungen der EU zu beleuchten, zu diskutieren und Blickwinkel auszutauschen. Jedes Jahr steht das SFM unter einem neuen Thema. Das diesjährige lautete «Eurocalypse now – how restistant is Europe?». Neben hochmotivierten Teilnehmern, auch aus exotischeren Staaten wie Aserbaidschan oder Armenien, kann die Veranstaltung mit qualifizierten Rednern, spannenden Paneldiskussionen, einem informativen Brüssel-Trip und selektierten Workshops überzeugen. Das nächste SFM wird voraussichtlich in einem Jahr wieder Ende März stattfinden.