Anfang März gelangte ein Brief von 78 Redaktorinnen an die Chefredaktion und Geschäftsleitung der TX Group AG, gemeinhin bekannt als Tamedia, an die Öffentlichkeit und sorgte für grosses Aufsehen. Darin beschreiben die Unterzeichnenden, dass sie die seit Jahren in den Redaktionen herrschende Situation nicht mehr hinnehmen können und dringender Handlungsbedarf bestehe, denn: «Frauen werden ausgebremst, zurechtgewiesen oder eingeschüchtert. Sie werden in Sitzungen abgeklemmt, kommen weniger zu Wort, ihre Vorschläge werden nicht ernst genommen oder lächerlich gemacht. Frauen werden seltener gefördert und oft schlechter entlohnt.» Diese Behauptungen werden sodann durch zig konkrete Beispiele von unterschwelligem Sexismus und Geschlechterdiskriminierung am Arbeitsplatz präzisiert. Die Rede ist unter anderem von unangebrachten Aussagen männlicher Kollegen gegenüber weiblichen Kolleginnen, wie «Du bist so hübsch, du bringst es sicher noch zu was», «Du bist sehr forsch» oder «Du bist noch nicht so weit». Auch unsere Chefredaktorin hatte kürzlich eine solche Erfahrung machen müssen. Nach dem «Skandal» um eine vermeintliche Zensur beim prisma, worüber das St. Galler Tagblatt ohne Gegendarstellung berichtete, trafen sich unsere Chefredaktorin und der Tagblatt-Chefredaktor zum Gespräch. Dabei entschuldigte er sich für die einseitige Berichterstattung und teilte der prisma-Redaktion im Anschluss schriftlich mit, dass er das Vorgefallene bedaure und sich vom Zensurvorwurf distanziere. Als tags darauf weitere Artikel mit denselben Falschinformationen publiziert wurden, nahm die prisma-Chefredaktorin erneut Kontakt zum Chefredaktor des Tagblatt auf. Auf die Frage, weshalb nach dem klärenden Gespräch erneut versucht werde, den Ruf des prisma öffentlich zu schädigen, soll er salopp entgegnet haben: «Du bist noch so jung und leitest nur eine kleine Redaktion. Kennst du überhaupt den Pressekodex?» Die Parallelen zum Brief der Tamedia-Journalistinnen sind unübersehbar. Es schockiert, dass eine Person auf ihr blosses Alter reduziert wird. Jung zu sein, bedeutet nicht zwingend, die nötige Erfahrung nicht mitzubringen. Zudem zielt eine solche Antwort lediglich darauf ab, das Gegenüber zu diskreditieren und der Frage auszuweichen. Hätte sich der Chefredaktor einem Mann gegenüber ebenfalls so verhalten? Wohl kaum, wage ich zu behaupten. Ich zumindest habe noch nie von solchen Aussagen an die Adresse junger Männer gehört. Gegenüber (jungen) Frauen aber scheinen solche Äusserungen allgegenwärtig, wie auch der Brief und das eben beschriebene Beispiel zeigen.
Diffamierendes ohne Konsequenzen
Es bleibt indes nicht «nur» bei Worten. Auch ungenügende Reaktionen auf ganz klar unangebrachte Aussagen werden im Brief beschrieben. Der Vorgesetze einer der Frauen habe beispielsweise nicht eingegriffen, als sich Arbeitskollegen in einem Arbeitschat sexistisch über sie ausgelassen hatten. Die Reaktion darauf: Sie solle deswegen einfach nicht ihre Motivation verlieren. Des Weiteren würden in Sitzungen Vorschläge von Kolleginnen ignoriert und plötzlich zu Vorschlägen von Kollegen, denn «Ideen scheinen erst wichtig zu sein, wenn sie von einem Mann ausgesprochen werden.» Nicht nur im Alltag spürten die Journalistinnen geschlechtsbasierte Einschränkungen, sondern auch was die beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten angeht. Einer Frau sei eine Weiterbildung untersagt worden, nachdem sie sich kritisch zu einer internen Angelegenheit geäussert hatte. Für die Kaderweiterbildung wurde eine andere im Gegensatz zu einem männlichen Kollegen nicht in Betracht gezogen, obwohl sie seit Jahren Sitzungen leite, Praktikant*innen betreue und sich auch sonst, bemerkbar zu machen versuchte. Das Pensum aufzustocken werde darüber hinaus bloss Männern erlaubt – Frauen würden mit dem Argument vertröstet, dass dafür momentan die nötigen Stellenprozente fehlten, die dann aber auf mirakulöse Weise bei den Männern vorhanden seien. Ähnlich verhalte es sich auch mit der Lohnungleichheit: Wenn Frauen eine Lohnerhöhung verlangen, weil sie immer mehr Aufgaben übernommen oder gemerkt haben, dass sie massiv weniger verdienen als gleich qualifizierte Kollegen, würden sie stets mit der Begründung abgewiesen, dass dafür das Geld fehle, die Kollegin eines anderen Teams auch nicht mehr verdiene oder die anvertraute Leitungsfunktion ja Lohn genug sei.
Ein strukturelles Problem
Die von Männern in Schlüsselpositionen geprägte Betriebskultur, die vorgebe, was angesehen und geschätzt ist, müsse verändert werden. Nur dies verhindere, dass noch mehr qualifizierte Frauen aus Frust das Unternehmen verlassen. Dass sich solche Verhaltensweisen hartnäckig halten, liegt wohl daran, dass sie tagtäglich gelebt und nur selten hinterfragt werden. Das geht auch aus der empfehlenswerten Serie «The Morning Show» hervor, in der die zermürbenden Verhältnisse eines Medienhauses thematisiert werden. Die dargestellten Opfer sexueller Übergriffe willigten quasi ein. Dies jedoch nur, weil ihnen die herrschenden Machtverhältnisse faktisch keine andere Wahl liessen – weshalb von «Einwilligung» keine Rede mehr sein kann. Zwar berichten die 78 Journalistinnen nicht von direkt Vergleichbarem, trotzdem lohnt sich die Serie, um solch festgefahrene Verhaltensweisen sowie deren Folgen zu verstehen. Sie zeigt auf, wie sich derartige Probleme einschleichen und warum niemand dagegen vorgeht.
Ein klassischer Teufelskreis
Die Tamedia-Journalistinnen stiessen mit ihrem Brief jedoch einen Prozess an, welcher nicht von allein ins Rollen gekommen wäre. Sie fordern unter anderem eine anonymisierte Umfrage zur Erfassung des Arbeitsklimas, die stärkere Förderung von Frauen durch transparentes Recruiting und familienfreundliche Strukturen sowie standardisierte Verfahren bei Mobbing, sexueller Belästigung und weiteren Belastungssituationen. Besonders Letzteres, unter Beizug von Fachpersonen, sollte meines Erachtens in jedem grösseren Unternehmen aufgrund der Fürsorgepflicht der Arbeitgeberin selbstverständlich sein. Die Journalistinnen verlangten bis zum ersten Mai konkrete Vorschläge zur Umsetzung ihrer Forderungen – ob diese pünktlich erfolgt sind, war zum Zeitpunkt unseres Redaktionsschlusses noch unbekannt.
Der Brief der Tamedia-Redaktorinnen zeigt einmal mehr, warum es Bewegungen wie «Me Too» dringend braucht: Erst wenn von Vielen auf ein Problem aufmerksam gemacht wird, wird auch hingehört. Oftmals fühlen sich die Betroffenen bis dahin damit allein und nehmen sich noch nicht einmal selber ernst – obwohl sie stark darunter leiden. Die Vorfälle werden im Einzelfall noch verharmlost, à la «das war doch nur ein blöder Witz und nicht ernst gemeint». Gehäuft führen diese «Witze» aber zu etwas, was nicht witzig ist: Die Benachteiligung von Frauen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit. So geben viele frustriert ihre Stelle auf, wodurch jene noch mehr Überhand gewinnen, welche die vorherrschende Macho-Kultur beibehalten. Die Folge sind weitere Abgänge – ein klassischer Teufelskreis, der das Denken im Unternehmen zementiert. Genau deshalb braucht es Disruptionen wie der vorliegende Brief. Erst dadurch wird ein dringend benötigter Neustart der Betriebskultur möglich.