Nils Jent ist seit seinem 19. Lebensjahr körper- und sprechbehindert sowie blind. All dies hinderte ihn jedoch nicht am Nachholen der Matura und am Abschluss eines Doktoratsstudiums. Heute leitet er nebst dem IFPM Diversity Center die «Angewandte Forschung» am Center for Disability and Integration (CDI-HSG). prisma hat sich mit ihm über seine Karriere und sein eindrückliches Leben unterhalten.
Mitten im November besuchen wir Nils Jent in seinem Büro an der Rosenbergstrasse, welches sich hinter dem Bahnhof befindet. Es ist bitterkalt und – für St. Gallen um diese Jahreszeit typisch – neblig. Umso wärmer ist dafür der Empfang, den uns Nils Jent und seine Arbeitspartnerin Regula Dietsche bereiten.
Nils Jent lebt seit einem Motorradunfall 1980 mit einer Körper- und Sprechbehinderung und ist blind. Bei der Notfalloperation blieb das Herz des damals 18-Jährigen rund acht Minuten stehen. «Für alle war es ein Wunder, dass ich diese Ruhepause meines Herzens überlebt habe.» Danach lag er vier Wochen im Koma.
Trotz Schicksalsschlägen hat man bei Nils Jent nie auch nur ansatzweise den Eindruck, er würde sich über seine Lage beschweren. Im Gegenteil – er nimmt sie sogar mit einer gehörigen Portion Humor und erklärt: «Blindsein hat auch Vorteile: Ich kann mir vorstellen, heute sei ein wunderschöner, sonniger Tag.»
Alles im Kopf
Trotz seiner Einschränkungen wollte Nils Jent die Matura nachholen. Denn die für ihn unerträgliche Alternative war Peddigrohrflechten oder Kaltschweissen in einer Behindertenwerkstätte. Die Maturität – ein Schritt, den ihm damals kaum jemand zugetraut hat. Nach Vorstellungsgesprächen an Mittelschulen erklärte sich die Evangelische Mittelschule in Schiers bereit, das Projekt anzugehen. Die Arbeit verlangte ihm viel ab, konnte er doch den Stoff nicht visuell aufnehmen. Alles lernte er auswendig von Kassetten, die ihm seine Mutter zuvor mit dem Lehrmaterial besprochen hatte. Mit 27 Jahren erhielt er das Maturazeugnis – als Klassenbester.
Früher wollte Nils Jent Architektur studieren. Ein Traum, den er ebenso loslassen musste wie sein gesamtes Leben vor dem Unfall. In der Mittelschule lag sein Schwerpunkt auf Mathematik und Physik. Chemie war gar sein Steckenpferd. «Den Dreh dafür fand ich allerdings erst als Blinder raus.» Also zog es ihn an die ETH Zürich. Schnell wurde klar, dass ein Studium im naturwissenschaftlichen Bereich mit Blindheit schier unmöglich ist. «Auf Mittelschulstufe konnte ich Integral- und Differenzialrechnungen noch im Kopf auflösen; auf ETH-Niveau drohte das Scheitern.» So entschloss er sich zum Studium der Betriebswirtschaftslehre an der HSG.
Leben für die Arbeit
22 Jahre nach seinem Unfall und nach vielen Jahren der Therapie wurde Nils Jent 2002 der Doktortitel verliehen. Seine Diplomarbeit wie seine Dissertation ebneten den Weg zu seiner heutigen Arbeitsstelle. Beide Arbeiten beschäftigten sich mit dem Thema Diversity Management – ein Thema, das dazumal an der HSG im Kommen war. So wurde er Leiter des Diversity Centers am Institut für Führung und Personalmanagement. In seiner Dissertation greift er zudem die so genannte «Arbeitspartnerschaft» auf, in der die soziodemografische Unterschiedlichkeit der Mitglieder neu und erstmals ausdrücklich Berücksichtigung findet. Kernziel der Arbeitspartnerschaft ist es, die auf der Verschiedenartigkeit beruhenden Vorzüge zu stärken, die Nachteile dagegen möglichst zu mindern. In einer solchen Zusammenarbeit profitieren Nils Jent und seine Arbeitspartnerin, Regula Dietsche, gleich doppelt.
«Mein offizieller Auftrag an der HSG ist es, als Lehrbeauftragter tätig zu sein», erklärt uns Nils Jent. Momentan halte er nebst seinen zwei Leitungsfunktionen pro Semester eine bis zwei Vorlesungsreihen ab. «Inoffiziell, so denke ich, besteht mein Auftrag aber in der Sensibilisierung für das Thema ‹(Dis)Ability›; schliesslich bin ich an der HSG wohl der auffälligste Behinderte. Dieser aus der Psychologie bekannte Sichtbarkeitseffekt lässt sich verantwortungsbewusst dazu nutzen. Beispielsweise für Interviews, die der Behinderung den Nimbus des Obskuren nehmen.» Zwischen diesen zwei Aufträgen, Lehre und Sensibilisierung, gibt es sicherlich eine grosse Schnittstelle. Das wird auch klar, als wir wissen wollen, wie denn sein Umfeld ihn wahrnehme. Spontan erinnert sich Nils Jent an eine Szene aus dem mit dem ZFF-Audience Award 2011 prämierten Film «Unter Wasser atmen», einer verfilmten Biografie seiner selbst. Eine Studentin äussert darin zuerst ihre Bedenken, ob er ihre Erwartungen an die Qualität der Lehrinhalte überhaupt erfüllen könne. Letzten Endes habe sie aber gesehen, dass der Vorlesungsablauf «super funktioniere ». Seine Arbeitspartnerin ergänzt, dass es sehr schwierig sei, Nils Jent zu verorten, da er das stereotype Bild des Behinderten überhaupt nicht erfülle.
Wir möchten auch wissen, wie Nils Jent denn abschalten kann. «Eigentlich gar nicht richtig – zumindest nicht im eigentlichen Sinn. Dies, weil ich zuhause auch ein Büro habe.» Dabei ist diese Aussage keinesfalls mit der des Managers vergleichbar, der abends noch seine E-Mails bearbeitet. «Die Welt kann nichts dafür, dass ich behindert bin, und sie ist nun einmal auf Nichtbehinderte ausgerichtet. Ich muss mich anpassen», erklärt uns der 49-Jährige. Entsprechend erledigt er bis tief in die Nacht Arbeiten, um mit der Welt Schritt halten zu können. Dabei erklärt er uns auch, was uns denn so unterscheidet: «Sehen Sie, wenn Sie einen Fehler machen, haben Sie den innert kürzester Zeit korrigiert, weil sie effizient arbeiten können. Ich muss diese ganze Effizienzeinbusse mit meiner Effektivität wieder wettmachen. Meine Langsamkeit zwingt mich dazu, gleich die richtigen Dinge zu tun.»
Schachmatt
Auch wenn das Schachspiel für Nils Jent heute aus zeitlichen Gründen kaum noch einen Stellenwert hat, so war das Königsspiel nach seinem Unfall doch extrem wichtig für ihn. Zunächst konnte er mit der Aussenwelt überhaupt nicht kommunizieren, später nur undeutlich. Selbst die Ärzte verfielen dem Irrglauben, er leide an einer geistigen Behinderung. Da verhalf ihm Schach zum Gegenbeweis. Nach und nach konnte er die Angestellten im Krankenhaus und schliesslich auch den Chefarzt besiegen. «Von da an ging man mit mir ganz anders um. Einer, der den Chefarzt schachmatt setzt, kann nicht wirklich doof sein, war fortan einhellig die Meinung», schmunzelt Nils Jent.
Zur Musik berichtet uns Nils Jent, er sei in seiner Jugend Mitglied in mehreren Bands gewesen und habe auf Bassgitarre und Querflöte Funk gespielt. «Musik half mir, mich auszudrücken. Das ist mit reinem Musikkonsum nicht mehr das Gleiche.» Dennoch hört er sich ab und zu gerne etwas an. Das könne querbeet alles sein – von Hardrock bis zum Sinfonieorchester.
Auf die Frage, wo er sich denn in fünf bis zehn Jahren sehe, gibt Nils Jent zwei Antworten. «Ich sehe mich in einem normalen Leben mit drei Kindern und einem Hund beim Rasenmähen. » Das sei die provokative Antwort, meint er lachend. Die realistischere sei: «Ich sehe mich noch näher bei mir. Was das von aussen bedeutet, kann man nie sagen. Da gibt es so viele Faktoren, die man nicht beeinflussen kann. Deshalb möchte ich innerlich noch näher bei mir sein.»
Zur Person
Nils JentGeboren:
25. Februar 1962 in Brugg AGHobbys:
Schach, Musik und Aphorismen verfassenLieblingsmusik:
Hardrock bis SinfonieorchesterLieblingsessen:
SüssspeisenLieblingsort:
bei meinen Nächsten