Julia Nentwich unterrichtet Psychologie vor allem auf der Assessment-Stufe. prisma trifft sie zu Hause in Speicher zu einem Gespräch über Gender und Diversity, ihren Karriereweg und Gesangsunterricht.
Eine winzige Tür zu einem sehr alten Haus im malerischen Speicher; wer bei Julia Nentwich zum Kaffee eingeladen ist, steht vor einem Gebäude, wie man es sich in einem Ausserrhoder Dorf mit knapp 4’200 Einwohnern vorstellt. Versteckt hinter dem Gesteck an der Türe, das sichtlich auf Frühlingstemperaturen wartet, findet sich die Klingel.
Herzlich bittet Nentwich ins Treppenhaus und greift zur Kiste mit den Gästepantoffeln. «Oben ist es zwar wärmer, aber nehmen Sie sich ein Paar», rät sie wohlweislich. Dem kühlen Wetter verdankt sie nämlich eine leichte Erkältung. Die Treppe hoch und aus dem Stiegenhaus in die Küche breitet sich dann die versprochene wohlige Wärme aus. Der Raum ist erfüllt von den Klängen klassischer Musik. «Monteverdi», wie die Mutter dreier Kinder erklärt. Sie übt gerade für eine Aufführung mit einem lokalen Chor. Am massiven Nussbaumtisch, gefertigt aus dem Holz eines alten Baumes im Garten ihres Grossvaters, reicht Nentwich eine Kanne Kräutertee; ein willkommenes Angebot bei diesem Wetter.
Psychologie auf Umwegen
Julia Nentwich kennt man vor allem auf der Assessment-Stufe, auf der die 43-jährige Titularprofessorin Psychologie lehrt. Die gebürtige Karlsruherin wuchs in Tübingen auf und studierte in Köln und Bremen. Psychologie überlebte zusammen mit Soziologie als einzige Studienrichtung Nentwichs Auswahlprozedere. In der Psychologie lasse sich wunderbar Grundlagenforschung mit ganz praktischen Dingen verbinden. Eine wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung kam für sie nie infrage: «Mein Vater meinte ja, ich solle eine Banklehre machen; da bekam ich einen Lachanfall», erinnert sich Nentwich. Dennoch schätzt sie bis heute die Verbindung zwischen Unternehmen und Gesellschaft, an der sich ihre psychologische Forschung orientiert. Mit dem Psychologiestudium klappte es jedoch nicht auf Anhieb. Nentwich schaffte die Numerus-clausus-Prüfung nicht, begann Sozialpädagogik zu studieren und musste sich erst in die Uni Bremen reinklagen. Damals konnte man die Kapazitätsberechnung einer Uni noch gerichtlich prüfen lassen. Jus sei aber trotz des Erfolges keine Option gewesen. «Es ist darum eigentlich ziemlich lustig, dass ich heute Psychologieprofessorin bin.»
Den Weg nach St.Gallen fand Nentwich eher zufällig. Als sie ihre Diplomarbeit verfasste, war eine Assistenz im Fachbereich Psychologie an der HSG ausgeschrieben. Das Stellenprofil sprach sie an, da genau ihre drei Studienschwerpunkte (feministische Theorie, konstruktivistische Psychologie und qualitative Methoden) gefordert wurden. Von der HSG hatte sie bis dahin jedoch noch nie etwas gehört. «Ich habe dann erst einmal im Atlas nachgesehen, wo St.Gallen eigentlich liegt», gesteht Nentwich. Die Entscheidung stand schnell fest: Zurück nach Süddeutschland wollte sie ohnehin, da ihr die Berge fehlten; ob auf diese oder die andere Seite des Sees sei letztlich egal gewesen.
Vor der eigenen Türe kehren
In ihrer Dissertation und Habilitationsschrift befasste sich Julia Nentwich mit Gender und Diversity. Themen, die auch für die Universität aktueller sind denn je. Im jüngsten Gender-Monitoring identifizierte die Universität Handlungsbedarf beim Frauenanteil in Studium, Lehre und Forschung.
Für Nentwich ist klar, dass die gesamte Uni hier auf verschiedensten Baustellen etwas tun muss. Die nötige Sensibilisierung scheine derzeit erreicht, weshalb sie zuversichtlich ist, dass die Thematik jetzt professionell und mit dem nötigen Management-Know-how angegangen wird. Gerade bei der Suche nach Studentinnen müsste man gezielt am Image als Kaderschmiede arbeiten. «Vieles hier wirkt ziemlich männlich; ich werde häufig gefragt, was ich eigentlich an der HSG mache.» Für sie sei dies Ausdruck der sehr einseitigen Wahrnehmung der HSG als neoliberale Bildungseinrichtung, was der bestehenden Vielfalt einfach nicht gerecht wird.
Julia Nentwich muss selbst drei Kinder und die Arbeit unter einen Hut bringen. Sie setzt hierbei auf einen pragmatischen Ansatz: «Zunächst einmal habe ich einen Mann, der sich neben seinem Beruf als Unternehmensberater auch um die Kinder kümmert.»Während Nentwich eine 75-Prozent-Stelle hat, arbeitet ihr Mann 60 Prozent. Der Rest war für die Psychologin reine Kopfsache; eine Frage des Wollens und der Organisation im Alltag. An zwei Tagen pro Woche wird die Familie durch eine Haushälterin unterstützt. «Es ist ein teures Hobby, das wir uns da leisten, aber für uns passt es.» Eingestehen muss Nentwich aber, dass das Mutterwerden auch an ihr nicht spurlos vorbeiging. Gerade nach der Geburt ihres ersten Kindes habe sie manchmal in den Vorlesungen leicht dement gewirkt. «Ich habe die Studis nach den Big Three der Stereotypenforschung gefragt, ihnen fielen nur zwei ein – und mir halt leider auch kein Drittes», meint Nentwich lachend.
Musik in Speicher
Das Haus von Julia Nentwich und ihrer Familie liegt an einer ruhigen Nebenstrasse in Speicher; um die Ecke die Spielgruppe und die Kindertagesstätte. Es war auch dieses Haus, das die Familie ins Appenzellerland zog. «Früher habe ich wegen der schönen Bilder häufig den Immodream-Newsletter studiert und da fand ich es.» Das Haus habe sie «auserwählt», erklärt Nentwich. Umziehen kommt für Nentwich in nächster Zeit daher auch nicht infrage und wenn sie dazu gezwungen wäre, würde sie in weite Ferne gehen: Stockholm, Vancouver oder Neuseeland wären ihre bevorzugten Destinationen.
Abends nach der Uni einfach ausspannen ist bei der Professorin nicht. Zunächst wollen die drei Kinder umsorgt werden. Ist die Küche dann erst einmal gemacht, hört sie Musik, übt für die im November anstehende Monteverdi-Aufführung mit der Bach-Kantorei oder unterhält sich einfach mit ihrem Mann. Gesungen hat Nentwich schon immer gerne, zum Chor kam sie durch die Musikschule, die ihre Kinder besuchen. Diese bietet Eltern und Freunden die Möglichkeit, sich einmal im Monat zur Probe zu treffen. Beim Singen sieht sich Nentwich nicht selten in die Lage ihrer Studentinnen und Studenten versetzt: «Da steht einer vorne und erzählt von etwas, wovon man keine Ahnung hat!» Zu Hause arbeite sie dann aber immer schön alles auf, meint sie mit einem Lachen.
Die nächsten Jahre kann sich Julia Nentwich gut vorstellen, in St.Gallen zu bleiben. Gerade im interdisziplinären Umfeld von Psychologie und Organisationsforschung sieht sie noch viele interessante Themen. «Solange mir weitere spannende Fragen einfallen und mir das Unterrichten Freude macht, sehe ich keinen Grund, mich zu verändern.»
Geburtstag: 16. Januar 1972 in Karlsruhe
Hobbys: Skifahren, Garten, Singen
Familie: verheiratet, drei Kinder (zehn, sieben und vier)
Lieblingsmusik: momentan gerade Monteverdi, ansonsten aber eher rockige Sachen
Lieblingsessen: Spaghetti mit Bärlauchpesto
Lieblingsort: Sofa und Garten