Summiert 127 Jahre lang waren die Staatschefs an der Macht, die den zweiten Arabischen Frühling nicht mehr erleben. Gegangen ist mit ihnen auch eins: die autoritäre Berechenbarkeit der Region.
Eine Frau liegt in den Wehen im Kreisssaal, um sie herum eine gespannte Horde von Journalisten. Den anwesenden Arzt fragt sie: «Und, ist es ein Bart oder ein Kopftuch?» So beschreibt ein tunesischer Karikaturist die «Geburt der ersten arabischen Demokratie» in seinem Land nach den Wahlen im letzten Oktober. 40 Prozent der Sitze in der verfassungsgebenden Versammlung gingen an die islamistische Ennahada- Partei. Auch in Ägypten gewannen Muslimbrüder und Salafisten, dagegen konnten die liberalen Parteien nur einstellige Prozentzahlen einfahren. So lautet das Ergebnis einer weiteren Etappe des Arabischen Frühlings, der eigentlich schon im Dezember 2010 begonnen hatte.
Ein Gemüsehändler protestierte vor einer Gemeindeverwaltung gegen die Konfiszierung seiner Waren, fragte schreiend wie er so leben solle und zündete sich an. Am 4. Januar erlag Mohammad Bouazizi seinen Brandverletzungen, zehn Tage später erlag in Tunesien der erste arabische Despot den Protesten seiner Bürger. Mubarak wird innerhalb von wenigen Wochen folgen. Was als Solidaritätsbekundungen für Boauzizi begann, breitete sich in viele arabische Staaten mit Gerontokraten aus: Die Bevölkerungen machten ihre Regimes verantwortlich für die Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage, die Verbauung ihrer Zukunftsaussichten, die Ignoranz gegenüber ihrer Menschenwürde und -rechte.
«25 Jan – I was there»
In Kairo werden Postkarten für Touristen im Moment fast kaum angeboten. Dafür kann man an vielen Strassenecken rot-weiss-schwarze ägyptische Devotionalien oder Sticker mit der Aufschrift «25 Jan – I was there» kaufen. In Kairo sind viele stolz auf das Geleistete, zeigt einem der Taxifahrer die Abdrücke der Gummigeschosse an seinem Bein. Die Menschen fühlen sich ermächtigt: Das Verhältnis zu den Regierenden haben sie ein für alle Mal geändert, gerade kurz nachdem Hosni Mubarak über seinen Sohn als Nachfolger und somit eine Verewigung der herrschenden Zustände gesprochen hätte.
Es waren Jugendliche zwischen 16 und 22 Jahren, welche die physische Konfrontation mit dem Regime Mubarak gesucht und den Weg für breite Teile der Bevölkerung geebnet haben. Noch heute treffen sie sich fast täglich auf dem Tahrir- Platz und singen Parolen gegen Mubarak und Assad. Für Sprüche wie: «Mubarak, du bist deiner Uniform nicht würdig, zieh sie aus! Stell dich uns in deinen Boxer- Shorts!» in der Öffentlichkeit wären sie noch vor einem Jahr festgenommen worden. Die Mehrheit der jungen Bevölkerung Lybiens, des Jemens, Ägyptens und Tunesiens hatte in ihrem Leben nur den einen Regierenden an der Spitze ihres Staates erlebt, welchen sie dann zu Fall gebracht haben. Selbst das scheinbar so gefestigte Königreich Saudi-Arabien reagierte auf das Phänomen der revolutionären Heranwachsenden: Potenzieller Krawallmacher entledigte man sich mit einer massiven Ausweitung des Stipendienprogramms für Auslandsstudien. Der sudanesische Präsident Bashir und der irakische Premier Maliki haben auch im letzten Jahr angekündigt, für keine weitere Amtszeit anzutreten, in Algerien wurde der fast zwanzig Jahre dauernden Ausnahmezustand aufgehoben und noch in einer Reihe weiterer Staaten wurden Reformen angestossen.
«We asked for Egypt’s freedom, you asked for positions!»
Doch der Amtseid des ersten Interims- Präsidenten post-Mubarak auf dem Tahrir-Platz, dem «Platz der Befreiung», scheint längst vergessen: Noch ein Jahr später wird der Verkehr auf dem grossen Kreisverkehr von Zivilisten und nicht der Polizei geregelt, und auch die Militärs kommen nicht in dessen Nähe. Die Ägypter protestierten am 25. Januar 2012 wieder in Millionen gegen den Militärrat und verlangten lautstark die Vorverlegung der Präsidentschaftswahlen. Sie haben Angst davor, dass von ihrer Revolution nichts weiter bleibt als ein Militärcoup. «We asked for Egypt’s freedom, you asked for positions!», sagte um Weihnachten ein Graffiti in Kairo, «Your fear is their power» ein anderes.
Für den Kairoer Politikprofessor Ashraf el-Sharif steht fest, dass die Militärführung weiter die Fäden ziehen wird: Der Sicherheitsapparat, Medien sowie Justiz, welche die Bedingungen der Präsidentschafts- wie Parlamentswahlen bestimmen, werden noch immer vom Militär kontrolliert. Ein für sie ungünstiger Wahlausgang sei damit unlogisch, so Sharif im Egypt Independent. Die Ziele der Revolution seien in Gefahr, wenn es eine unabhängige Transformation des politischen Systems nicht geben wird. Ob die – mit Abstrichen – demokratisch gewählten Institutionen die strukturelle Krise der ägyptischen Wirtschaft und Fragen der politischen wie sozialen Rechte effektvoll adressieren können, darauf gibt es keine eindeutige oder schnelle Antwort. Der Druck auf die Regierenden ist in jedem Fall enorm.
«The daughters of Egypt are a red line»
Frauen werden regelmässig als die eigentlichen Verlierer des Arabischen Frühlings bezeichnet. Der bedeutende arabische Historiker Hisham Sharabi attestierte ihnen schon vor 30 Jahren das grösste revolutionäre Potenzial in den arabischen Gesellschaften. Die Emanzipation der Frauen sei der einzige Garant gegen den Rückfall in autoritäre Strukturen. Politische Erfolge konnten die Frauen vor allem in Ägypten bisher nicht feiern, eher im Gegenteil: Eine unter Mubarak geltende Frauenquote von 12 Prozent wurde vom Militärrat aufgehoben, Parteien mussten auf ihren Wahllisten nur eine weibliche Kandidatin stehen haben. Im Übergangsrat waren ebenfalls nur drei der 30 Sitze mit Ägypterinnen besetzt, im neuen Parlament nur 2 Prozent. Männer können sich doch ebenso gut für die Belange der Frauen einsetzen, heisst es. Die angestrebten Änderungen des Personenstandsgesetzes machen jedoch wenig Hoffnung auf emanzipatorische Fortschritte: Das Scheidungs- und Sorgerecht soll strenger und somit dem traditionellen Frauenbild der Wahlsieger angepasst werden. Ein Bikini-Verbot jedoch wurde wie in Tunis in Sorge um den Tourismus-Sektor nicht durchgesetzt.
Doch es gibt auch andere Stimmen. Die bekannte wie umstrittene ägyptische Menschenrechtlerin Nawal al-Saadawi sieht die Frauen nach den Ereignissen gestärkt. Frauen hätten auch mit ihrem Leben oder Augenlicht für ihre Beteiligung an der Revolution bezahlt und würden nun stärker wahrgenommen werden als vorher. Sie seien prominent geworden – ob in den sozialen Netzwerken oder als erfolgreiche Klägerin gegen die so genannten Jungfrauen-Tests. Nachdem die Bilder von der «Frau mit dem blauen BH» um die Welt gingen, hörte man auf dem Tahrir eine neue Parole: «The daughters of Egypt are a red line!» – «…even if she was Jewish!», wie mir ein Taxifahrer in Kairo das höchste der ägyptischen Beschützergefühle erklärte. Bei dem Marsch der 10’000 Frauen letzten Dezember wurden die Demonstrantinnen durch eine Kette von Männern vor möglichen Übergriffen geschützt. Saadawi rief die Frauen dazu auf, sich zu organisieren und nun gerade nicht leiser zu werden – nur so könnten sie ihre Rechte einfordern. In Tunesien, wo Frauen seit mehr als 30 Jahren Stimmrecht und den Zugang zur Pille haben, wird gerade in den Debatten um Frauenrechte auch über den Grundcharakter der «neuen» Gesellschaft verhandelt. Fast die Hälfte der Parlamentsmitglieder ist hier allerdings weiblich.
Szenenwechsel: Syrien
Im Zusammenhang mit Syrien wurde in den Medien das Wort Revolution lange nicht verwendet. Der Vaters Assads hatte schon einmal einen Aufstand in Hama mit mehr als 20’000 Opfern niederschlagen lassen. Während mit Tunis und Kairo schnell die politischen Zentren auch zum Entscheidungsort der Revolutionen wurden, waren in Lybien und Syrien die Hauptstädte als Hochburgen der Regimeanhänger lange ruhig und fast unberührt. Die Proteste begannen in der syrischen Peripherie, in Städten wie Daraa und Latakia, und breiteten sich zunächst langsam auf Hama und Homs aus, welche zwischen den regierungstreuen Grossstädten Aleppo und Damaskus liegen. Die Anzahl der Toten liegt heute weit über 5’000 – mit nur 1’000 «Märtyrern» bezeichnen die Ägypter dahingegen ihre als die erste friedliche Revolution nach der Französischen.
Ungeachtet der politischen Katastrophe ist das syrische Homs mittlerweile vor Allem zum Sinnbild der humanitären Tragödie geworden: Seit dem 4. Februar wird die Stadt von der Armee belagert, die oppositionelle «Free Syrian Army» kann mit ihren begrenzten personellen wie militärischen Ressourcen kaum dagegenhalten. Wer kann und überlebt, der flieht aus Homs; Verletzte wagen auch immer öfter den Weg ins nahe Tripoli im Libanon. Auch aus anderen syrischen Städten flüchten immer mehr Menschen in die Nachbarländer. Ein syrischer Offizieller, der mit der Nachrichtenagentur AFP sprach, erklärte die Gelassenheit der syrischen Regierung: «Russia is our political shield while Iraq, Lebanon and Iran are our economic lungs.» Ein Eingreifen der Staatengemeinschaft wie in Lybien und die Wahrnehmung der «responsibility to protect» ist unwahrscheinlich und Moskau konnte bisher noch nicht überzeugt werden, Assad an den Verhandlungstisch zu zwingen. Zumindest bis zum Redaktionsschluss.
Auch in Syrien gibt es einen berühmten Karikaturisten, der kritisch die politische Lage in seinem Land kommentierte. Ali Ferzat hat dabei, anders als sein tunesischer Kollege «Z», kein Synonym benutzt. Am 25. August 2011 wurde er in Damaskus von Maskierten angegriffen, welche ihm eine «Warnung» verpassen wollten und seine beiden Hände brachen. Zeichner auf der ganzen Welt nahmen mit Portraits Anteil an Ferzats Schicksal: Sie zeigen ihn auf seinem Krankenbett mit bandagierten Händen, wie er mit dem Stift zwischen den Zähnen oder Zehen weiter gegen Assad zeichnet – oder einen Stinkefinger gegen seine Angreifer erhebt. Mittlerweile lebt Ali Ferzat in Kuwait.