Die Sonne geht auf, die Vögel zwitschern. Hast du dir das aus deiner Perspektive vorgestellt? So geht das natürlich nicht. Nichts ist alles, ausser das, was wir uns darunter vorstellen.
Unser ganzes Leben erfahren wir durch unser Gehirn. Jede Information, jeder Sinn, jeder Eindruck, jedes Gefühl entsteht in ihm. So ist unser Bewusstsein ein treuer und tagtäglicher Begleiter unseres Lebens. Doch wenn es zu der Frage kommt, was denn nach dem Tod sein wird, wird es uns schnell zum verhängnisvollen Feind. Das Bewusstsein lässt uns ohne Probleme verstehen, dass man heute einen Baum fällen kann und dieser dann morgen einfach weg ist – schliesslich führt ein Baum in unseren Augen kein bewusstes Leben. Doch ist es uns nicht möglich, unseren Tod auf diese Weise zu sehen. Wie denn auch? Unser ganzes Leben ergründen wir durch das Bewusstsein, und unser Tod beinhaltet jenes nicht. Das heisst, wir gelangen an die Grenzen unseres eigenen Verstandes, können uns das Nichts nicht vorstellen, denn schliesslich sind wir gewohnt, durch unser Bewusstsein auf vieles Einfluss zu nehmen. In einem Nicht-Leben würden wir diese Gabe verlieren.
Angst vor dem Nichts
Wenn dir dein Leben lang gesagt wird, dass diese schwarze Türe dort ins Nichts führt und alle, die je hindurchgingen, nie mehr zurückkamen, dann hast auch du Angst vor dieser Türe. Wenn nun jedoch einer zurückgekommen wäre und gesagt hätte, dass es hinter dieser Türe viel besser sei und alle dort seien, dann wärst auch du durch diese Türe gegangen, hinein in die unbekannte Leere. Viele Religionen wurden in diesem Sinne aufgebaut, um dem Tod seine Ungewissheit zu nehmen, ihn verständlich und vorstellbar zu machen; um den Gläubigen die Angst davor zu nehmen, einmal ins Nichts eintreten zu müssen. Doch warum hat man als Nichtgläubiger Angst vor dem Tod?
«Der Frühmensch zuckt gleichgültig mit den Schultern und lässt sich freudig von einem Säbelzahntiger fressen.» So würde es sich wohl anhören, wenn man keine Angst vor dem Tod – dem unbestimmten Nichts – gehabt hätte. Dann würde die Spezies Mensch heute wohl aber auch nicht an der Spitze der Nahrungskette stehen. Doch diese Spitzenposition verändert nichts an unserer Angst vor dem Tod. Im Gegenteil. Durch die so erlangte Sicherheit bleibt uns mehr Zeit zum Denken und Hinterfragen und so wird diese Angst auch immer präsenter. Heutzutage könnte sie etwas mit unserem ständigen Vorausschauen und Planen zu tun haben. Unser ganzes Leben basiert auf dem Glauben an die Zukunft, wir wollen alles im Griff haben und so weit wie möglich auch beeinflussen und kontrollieren können. Der späteste Zeitpunkt in unserem Leben ist jedoch die Sekunde vor dem Tod, und uns vorzustellen, dass alles, was wir uns bis dahin erarbeitet haben, keinen Einfluss auf unser Schicksal im Nichts hat, würde unserem Leben den Sinn nehmen.
Illustration: Deborah Maya Beeler