«Jeden Morgen wache ich auf und weiss nicht, ob meine Hände funktionieren oder nicht.» Was für uns eine Selbstverständlichkeit ist, ist für Nils Jent immer wieder mit einer grossen Ungewissheit verbunden. Bei einem Motorradunfall mit 18 Jahren verletzte er sich lebensbedrohlich. Dass er nach einer fünfstündigen Notoperation, einem Herzstillstand von acht Minuten sowie einem dreiwöchigen Koma ins Leben zurückfand, «gleicht einem Wunder», sagten die Ärzte. Jeglicher Bewegungsfähigkeit beraubt, gefühllos, blind und stumm erwachte er im Spital. «Gefangener im Stahlkorsett des Körpers», steht in der Biographie über Jent. Der Kopf und das Gehör arbeiteten dagegen glasklar. «Nur bemerkte das monatelang niemand; wie auch.» Es war schliesslich seine Mutter, die entdeckte, dass ihr Sohn bewusst die Augen schloss und öffnete. Schnell war ein Kommunikationssystem entwickelt. «Für mich war dies das entscheidende Ereignis zurück ins Leben. Dagegen sind die heutigen Herausforderungen fader Abklatsch, auch wenn ich meist sehr engagiert rangehe.»
Der lange Weg zurück
Nach Jahrenin der Reha, wo er alles wieder neu lernen musste, entschied sich Jent, die Matura nachzuholen. «Träum weiter», musste sich der Schwerbehinderte in diesem Zusammenhang oft gefallen lassen. «Alternativlosigkeit macht kreativ und befügelt», deckt Jent seine Motivation auf. Die Matura schloss er als Klassenbester ab, nachdem seine Mutter ihm sorgfältig den gesamten Stoff auf Kassetten aufgenommen hatte. Damit es gelingt, zu Lernendes statt über das Sehen nun über das Hören aufzunehmen und zu speichern, waren Umgewöhnen und stetiges Training nötig. Noch in der Rehabilitationszeit lernte Jent ganze Schachpartien ohne Schachbrett zu spielen und zu gewinnen bis hin zu den schweizer Blindenmeisterschaften in den 80er Jahren. «Das beste aber auch gefährlichste Gehirnleistungstraining», bestätigt er. Dass seine Eltern ihm nie von der Seite gewichen sind, zeigt der Dokumentarfilm «Unter Wasser atmen: Das zweite Leben des Dr. Nils Jent» eindrücklich. Weiter ging es mit dem Lizenziat an unserer Alma Mater bis hin zum Doktortitel und zur Professur für Diversity Management and Inclusion an der HSG.
Zutiefst beindruckt von seinem Werdegang, frage ich ihn, woher er denn die Energie für all das nehme. Was denn seine Alternative gewesen wäre, erwidert er mir und führt weiter aus, er sei jener Typ Mensch, dem das Aufgeben äusserst schlecht bekäme. Seine Kraft und Energie ziehe er aus dem Umwandeln von Herausforderungen in etwas Tolles.
Studieren an der HSG
Wie er denn seine Studentenzeit an der HSG erlebt habe, wollte ich weiter wissen. «Die HSG hatte keine festen Strukturen und Prozeduren für Studierende mit Behinderung als ich 1989 mit dem BWL&Studium begann», meinte er mit einem Lächeln. «Diese Flexibilität war einerseits genau auf mich zugeschnitten, konnte ich so doch exakt bedürfnisspezifsch mit gestalten. Andererseits war es ein unfassbarer Zusatzaufwand an Zeit und Arbeit, mein Studium zu organisieren. Dennoch, für mich unbedingt das Richtige. Mit jedem Lehrstuhl musste einzeln ausgemacht werden, was überhaupt möglich ist.» Mündliche Prüfungen, die Aufnahme von Büchern und Vorlesungen auf Kassette kombiniert mit einem Team von rund 15 Personen, machten seinen Traum vom Studium an der HSG möglich. «Heute haben wir genormte Schubladen für den Nachteilsausgleich, standardisierte Prozeduren für die «Spec!al Needs», Rollstuhlrampen, sprechende Lifte, Induktionsschleifen, Blindenleitlinien, Behinderten-WCs und vieles mehr, die allesamt seinen damaliger Zusatzaufwand drastisch verringert hätten. Allerdings sei es heute kaum mündlich in seinem Home-Office abnähme. «Trotz allen wertvollen Standards müsste ich heute mit meiner ausserhalb jeden Standards liegenden Behinderung wohl das Handtuch werfen», prognostiziert Jent.
Die Lehre als Lebensprojekt
Die unermüdliche Energie, Dinge wieder und anders zu erlernen, hat ihm den Weg geebnet, sodass er heute als Professor Studierende unterrichten kann. Jent forscht am Center for Disability and Integration. Als Verfechter der Inklusion setzt sich Jent dafür ein, dass sich über die Zurverfügungstellung von Infrastruktur hinaus die Werthaltung und Einstellung der Gesellschaft verändert und weiterentwickelt. Denn nur wenn der Dialog zwischen den verschiedenartigsten Gesellschaftsmitgliedern im Selbstverständnis der Gleichwertigkeit tatsächlich auch auf gleicher Augenhöhe stattfindet, wird unsere Gesellschaft als Gesamtes und als bunte Einheit weiterkommen.