Phänomen Chatroulette – ein Selbstversuch

Seit November 2009 kann man als Webcam-Besitzer mit Wildfremden aus aller Welt chatten.

In den Medien hat man schon vieles gehört von der neuen Innovation im Internet: Chatroulette verbindet nach dem Zufallsprinzip Teilnehmer miteinander, welche sich nicht kennen und nach dem Zusammentreffen wohl auch nie wieder sehen werden. Von Skurrilem und Amüsantem wird berichtet, so beispielsweise von jenem Teilnehmer, der vor seiner Webcam seelenruhig am Drogen-Portionieren war und von seinem Gesprächspartner vorsichtig gefragt wurde, ob ihn das Zuschauen nicht störe.

Die Erwartungen sind also hoch, als ich das erste Mal die Seite www.chatroulette.com aufrufe. Prompt startet auch schon meine Webcam, und ich erscheine im unteren Teil des Bildschirmes. Der obere Teil ist für meinen Gesprächspartner vorgesehen. Ich klicke auf «New Game» und es geht los.

Interessant für Urologen

Wer nun jedoch sofort einen sympathischen Gesprächspartner erwartet, wird enttäuscht. Es folgt vielmehr ein sekundenschneller Wechsel von Bildern und kurzen Einblicken in die Räume anderer. Immer wieder steht «Connected», unmittelbar gefolgt von «Your partner disconnected. Looking for another partner, please wait …» Man braucht also ausreichend Geduld, bis sich etwas ergibt.

Noch weit störender ist, dass man ständig auf Perverse stösst. Die so entstehenden Anblicke mögen allenfalls für Urologen und Fruchtbarkeitsforscher aufschlussreich sein, für den normalen Nutzer sind sie schlicht abstossend. Man ist jeweils froh, dass der «next»-Button unverzüglich die Verbindung unterbricht.

Turkey urban poor

Nach etlichen Fehlversuchen finde ich schliesslich einen Gesprächspartner. Er heisst Gökhan und kommt aus Amasya in der Türkei. Gökhan ist 18 Jahre alt und Gymnasiast. Später hat er Grosses vor: Er will in Oxford studieren. Mitten im Gespräch kommt ein Freund Gökhans ins Bild und spielt auf seinem Radio in voller Lautstärke türkische Popsongs ab. Dazu legt er einen wilden Tanz hin. Die Stimmung bei Gökhan gleicht der auf einem Basar. Als ich ihn frage, was bei ihm los sei, ist sein einziger Kommentar: «Friend. Turkey urban poor.» Was genau er damit meint, frage ich ihn nicht, denn sein Englisch reicht nicht für genauere Auskünfte.

Bekiffte Russen und drohende Taliban

Als Gökhan schliesslich die Verbindung unterbricht, dreht sich das Roulette erneut. Nach den üblichen Flops lande ich als Nächstes bei einer Gruppe von Russen, welche ziemlich angeheitert scheinen. Sie haben keinen Wodkarausch, sondern halten stolz ein Säckchen mit Hanf in die Kamera und schreien dazu so laut «Weeeeed!!», dass sich der Ton überschlägt. Als die Russen dann völlig durchdrehen, klicke ich auf next und lande bei einem 29-jährigen Franzosen namens Laurent. Ich nutze meine verkümmerten Französischkenntnisse, da Laurent kaum Englisch spricht. Als wir auf Chatroulette zu sprechen kommen, erzählt Laurent von einem Gespräch mit einem vermeintlichen Taliban. Dieser habe wilde Drohungen ausgesprochen und ihm per Zeichensprache zu verstehen gegeben, dass er ihm die Kehle durchschneiden wolle. Als Laurent schliesslich das Gespräch beendet, schliesse auch ich das Fenster von Chatroulette.

Was bleibt nun als Fazit dieses Selbstversuches? Wenn man keine zu grossen Erwartungen hat, kann man sich mit Chatroulette sicher die Zeit vertreiben. Die Begegnungen bleiben jedoch meist recht oberflächlich, und nach den üblichen «Woher kommst du?»- und «Was arbeitest du?»-Fragen ist oft die Luft raus. Trotzdem kann Chatroulette durchaus Suchtpotenzial haben, denn es geschieht häufig Amüsantes und Unvorhersehbares, und man weiss nie, was einen als Nächstes erwartet.


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