Kräne, Schafe, halbfertige Strassen, Minarette und Kirchen, fortwährende politische Instabilität … 500 Kilometer südöstlich der Schweiz, in Priština, sieht die Welt zugleich ähnlich und doch ganz anders aus.
Im Flugzeugfenster zeigt sich eine hügelige, trockene, leere, aber dennoch ansehnliche Landschaft. Ich sehe eine breite Strasse, vermutlich eine Autobahn. Sie ist vollkommen ausgestorben und irgendwann hört sie abrupt auf, als ob sie von den Arbeitern noch während dem Bau eines Morgens einfach vergessen wurde. Daneben präsentieren sich zahllose Felder und, als das Flugzeug anfängt an Höhe zu verlieren, sehe ich kleine Ansammlungen von Häusern, gebaut in den unterschiedlichsten Stilen. Aus irgendeinem, für die Passagiere zwar unmöglich nachvollziehbaren, aber womöglich gut durchdachten Grund werden nach der Landung als erstes alle Passagiere in einen Bus geladen, der gerade mal knappe 200 Meter zurücklegt, bevor die Fahrt auch schon wieder zu Ende ist. Das Terminal besteht aus einem einzigen Gebäude. Auf der einen Seite kommt irgendwann das Gepäck angerollt, auf der anderen Seite warten die strengen Passkontrollen. Streng, weil man ohne gültigen Pass keinesfalls ins Land kommt. Den unmittelbaren Beweis dafür liefert eine Schweizerin, die im selben Flugzeug angereist ist und dann versucht, mit ihrem Personalausweis die Kontrolle zu passieren. Sie wird ohne weiteres Federlesen zurückgewiesen. Weshalb sie überhaupt ins Flugzeug gelassen wurde, bleibt ein Rätsel. Tatsache ist jedoch, dass sie zurück in die Schweiz fliegen muss, um ihren Pass zu holen und erst dann einreisen kann.
Sobald man das Terminal verlässt, steht man auf einem grosszügigen Parkplatz, sieht eine kleine Menschenmenge, die hier auf ihre Angehörigen und Bekannten wartet, und erkennt dahinter … nichts. Nichts, ausser grossflächige Wiesen und weitläufigen Hügeln, die dort selbstverständlich als Berge bezeichnet werden. Plötzlich sticht mir eine Herde dicker Wollknäuel ins Auge: sind das tatsächlich Schafe, die da seelenruhig auf dem Flughafenterminal grasen? Falls der Temperaturunterschied, die ungewohnte Vegetation, die Bauweise der Häuser nicht genügt haben: spätestens jetzt bin ich mir wirklich bewusst, wie fremd mir dieses Land ist. Schafe auf dem Flughafengelände? Willkommen im Kosovo.
Da der Flughafen etwas ausserhalb der Hauptstadt Priština liegt, muss man eine ganze Weile eine lange, gerade Strasse entlangfahren, um ins Zentrum zu gelangen. Links und rechts gibt es Tankstellen, kleine Einkaufszentren, leicht heruntergekommen wirkende Restaurants, Fabriken, und einige Hotels. Allerdings ist die Leere hinter diesen Bauten nicht zu übersehen: weite Wiesen, trockene Felder, sanfte Hügel.
Die Häuserfront abseits der Strasse verdichtet sich nun zusehends. Plötzlich zeigen sich Wohnblöcke statt Industriegebäude, Shops statt Tankstellen und Menschen statt wilder Kühe. Im Stadtzentrum angekommen bietet sich ein für Schweizer Augen eher ungewohntes Bild: Die Stadt ist ein wirres Gemisch aus Alt und Neu, Kirchen stehen neben Moscheen, einige Strassen sind nur halb fertig, überall wird gebaut und renoviert. Luxusmarken haben Filialen in einer schönen Shopping-Allee eröffnet, während nur einige Blocks weiter in kleinen unebenen Strassen zahlreiche zwielichte Händler die selben (beziehungsweise zum Verwechseln ähnliche) Artikel zu einem Bruchteil des Originalpreises anbieten.
Obwohl die junge Menschen, die in den Strassen Prištinas schlendern uns gleichen, ist ihr Leben in vielerlei Hinsicht anders. Der Balkan ist nämlich eine Region, die seit langer Zeit immer und immer wieder von Konflikten erschüttert wird. Angefangen mit den Römern, später die Ottomanen, die UdSSR, die Amerikaner, … grosse Mächte dieser Welt reissen sich schon seit Urzeiten um den Einfluss in der Region. Gewalt wurde besonders am Ende des letzten Jahrhunderts auch durch interne politische Konflikte geschürt. Der Kosovo war zwischen dem Ende der Balkankriege (1913) und der militärischen Intervention der NATO (1999), die dabei die Kosovo Liberation Army (KLA) unterstützte, unter serbischer Herrschaft. Danach fing für den Kosovo eine lange Phase des Wiederaufbaus und der Restrukturierung, unter der Leitung der UNO (Resolution 1244), an. Der Prozess, der zu einer eigenständigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovos führen sollte, dauerte neun Jahre. Im Jahr 2008 haben dann 94 Länder Kosovo als Staat anerkannt, zahlreiche weitere Nationen weigern sich aber heute noch. Die betroffenen Regierungen tun dies aus verschiedenen Gründen. Serbien und historische Verbündete betrachten den Kosovo immer noch als Teil von Serbien. Andere haben auch selbst Probleme mit einer Region des Landes, die ihre Unabhängigkeit fordert, so beispielsweise China mit dem Tibet oder Spanien mit Katalonien. Solche Staaten haben natürlich kein Interesse daran, ein Exempel einer erfolgreichen Abkopplung einer Region von einem eigenen Staat zu unterstützen.
Aus diesem Grund stehen einem jungen Kosovo-Albaner nicht die gleichen Möglichkeiten offen wie einem jungen Schweizer oder einer jungen Schweizerin. Mit einem kosovarischen Pass muss man sich beispielsweise für die meisten Reisen Visa beschaffen oder kann in bestimmte Länder gar nicht einreisen. Die Grenzen zwischen dem Kosovo und seinen Nachbarländern sind äusserst streng überwacht, was spätestens seit Einführung des «Schengen-Dublin»-Abkommens für Schweizer kaum mehr vorstellbar ist.
Der Streit um eine flächendeckende Anerkennung des Kosovos als unabhängiger Staat ist noch lange nicht beendet, denn hinter dem eigentlichen Streit stehen grosse Mächte. So ist es beispielsweise interessant zu wissen, dass die grösste europäische Militärbasis der Vereinigten Staaten im Kosovo liegt. Dem gegenüber ist einer der wichtigsten Verbündeten Serbiens Russland.
Allerdings gibt es trotzdem noch Hoffnung, wie die ersten, zaghaften Annäherungsversuche des serbischen und des kosovarischen Aussenministers im Rahmen eines Verhandlungsprozesses der EU zeigen. Obwohl nicht damit zu rechnen ist, dass der Kosovo kurzfristig diese komplexen Probleme allesamt zu lösen vermag, ist doch klar, dass das Land mitten im Wachstum steckt. Die Chancen, dass der Staat seiner jungen Bevölkerung bald schon mehr Möglichkeiten und angenehmere Lebensbedingungen bieten kann, stehen gut.
Als ich durch die Strassen von Pristina spazierte, meine Kamera als einzige Begleiterin, habe ich mich trotzdem nie alleine gefühlt. In den wenigen Stunden, die ich zur Verfügung hatte, um die Stadt zu erkunden, habe ich mit über zwanzig Leuten gesprochen, drei neue Freunde gefunden, die mich jeweils ein Stück meines Weges begleiteten und mir dabei von ihrem Land erzählten, und dabei mehr Lächeln gesehen als ich hätte zählen können. Mich faszinierte der Kontrast zwischen der sichtbaren Armut, den halb fertigen Strassen, den vernachlässigten Gebäuden und der trotz all dem so lebendigen Atmosphäre, die in der ganzen Stadt herrschte. Trotz einem Alltag, den ich als hart einschätzen würde, spiegelte sich zum grossen Teil nur Hoffnung und Zufriedenheit in den Gesichtern der Passanten. Zweifellos träumen sie von tiefgehender Veränderung und mehr Möglichkeiten, glauben dabei aber an ihr Land und dessen Zukunft. Erneut zeigte sich dies am 28. November dieses Jahres, als auch hier in St. Gallen der 100. Unabhängigkeitstag Albaniens stolz zelebriert wurde. Obwohl Pristina bekanntlich keine äusserst beliebte Reisedestination ist, lohnt sich ein Besuch auf jeden Fall, sei es auch nur, um kurzzeitig in eine andere Kultur einzutauchen, den pulsierenden Rhythmus dieser Stadt zu erleben und sich ein wenig über sein eigenes Leben Gedanken zu machen.