Am 10. Mai 1812 schrieb Johann Wolfgang von Goethe an Friedrich Heinrich Jacobi: «Man lernt nichts kennen, als was man liebt, und je tiefer und vollständiger die Kenntnis werden soll, desto stärker, kräftiger und lebendiger muss Liebe, ja Leidenschaft sein.» Ich zitiere diesen Satz gerne, wenn ich meine Beziehung zu meinem Fachgebiet beschreiben soll. Seit einigen Jahren brauche ich ihn allerdings deutlich weniger, er passt irgendwie nicht zum Bologna-System und der Bildungsbuchhaltung in ECTS-Währung.
Nun, Liebe kann man nicht erzwingen. Vielleicht würde sich Goethe heute auch anders ausdrücken. Vielleicht könnte man weniger pathetisch von Freude an seinem Fachgebiet, ja vielleicht – passend zur Spassgesellschaft – vom Spass an der Arbeit reden. Dabei fällt mir auf, dass man früher vor allem von Motivation gesprochen hat. Mir scheint, der Begriff sei ein wenig aus der Mode gekommen. Man muss als Lehrer zwar noch motivieren, das ist aber nicht das Gleiche wie eine Motivation zu haben. Dafür ist heute mehr von Leistung und Effizienz die Rede. Und möglicherweise ist es paradoxerweise so, dass es, seit das Selbststudium eine so zentrale Rolle im Studium einnimmt, weniger gut möglich ist, den eigenen Neigungen nachzugehen, denn der Gegenstand des Selbststudiums wird meist vorgegeben.
Wenn ich mich heute an den Hochschulen umschaue, wird mir bewusst, wie ungeheuer privilegiert ich studieren durfte. Im Vergleich zu heute war in meiner Studienzeit nur das Nötigste geregelt. Ich konnte weitgehend meinen Interessen nachgehen. Das hatte natürlich auch seine Gefahren und manch einer meiner Studienkollegen hätte sich mehr Zwang und Vorschriften gewünscht. (Die erste Forderung der Studierenden der 68er-Bewegung an der Uni Zürich war die Einführung von Zwischenprüfungen!) Ich möchte beileibe nicht die Hochschule von früher romantisieren. Ich erinnere mich an ein Bild aus einem Buch über den Mathematiker Heinrich Heesch (1906–1995). Auf diesem Bild sieht man den Physiker und Nobelpreisträger Arnold Sommerfeld (1868–1951) mit seinen Studierenden und dem Assistenten auf einer Bergtour. Es sind nicht mehr als zehn Personen und Frau Sommerfeld hat einen Kuchen gebacken. So ist es einfach nicht mehr, so war es schon zu meiner Zeit seit langem nicht mehr. Eigentlich ist das schade.
Mir ist klar, dass Universitäten mit über tausend Studierenden pro Jahrgang anders organisiert sein müssen. Bildung ist teuer und zu Recht erwartet der Steuerzahler, der für die Kosten aufkommt, dass die Mittel effektiv eingesetzt werden und sich der Aufwand auch ökonomisch lohnt (und nicht nur die Studierenden glücklicher macht).
Was man sich aber fragen könnte: Wenn Goethe Recht hat, könnte es dann eventuell sogar effektiver sein, das Studium inhaltlich freier zu organisieren?
Zur Person
Dr. phil. Reto Schuppli
ist Mathematiker. Er ist hauptamtlicher Dozent an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen und seit 1998 Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen. Er unterrichtet reine Mathematik, befasst sich aber auch mit der Geschichte und Philosophie der Mathematik und mit Spieltheorie.