Seit 2015 ist Nora Markwalder Assistenzprofessorin für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der Uni St. Gallen; ein Gespräch über ihren Werdegang, ihre Arbeit als Strafrechtlerin und das Fischen.
Es ist eine Herausforderung, inmitten der belebten Stadt Zürich die Wohnung von Nora Markwalder zu finden. Nach mehreren falschen Abbiegungen stehen wir schliesslich vor dem richtigen Eingang. Es scheint, als würden Journalisten keinen allzu grossen Orientierungssinn besitzen. Trotz der längeren Suche sind wir immer noch zu früh. Um die überschüssige Zeit zu überbrücken, wollen wir gerade einen erneuten Spaziergang unternehmen, als uns auch schon unsere Interviewpartnerin entgegenläuft. «Wollen Sie zu mir?», begrüsst uns Nora Markwalder, als sie unsere verloren dreinblickenden Gesichter sieht. Wir lachen verlegen, und nach einer kurzen gegenseitigen Vorstellung folgen wir ihr ins Innere des Gebäudes.
Mitten in Zürich
Wir sind beeindruckt von der Lage der Wohnung direkt im Zentrum von Zürich. «Die Lage ist wirklich perfekt. Wir hatten unglaubliches Glück, dass wir die Wohnung gekriegt haben.» Ihr Arbeitsplatz in einer Zürcher Anwaltskanzlei befinde sich nur ein paar Strassen weiter.
Im Lift fahren wir in die Altbauwohnung hoch und kommen dabei an einem Schuhgeschäft vorbei, wobei sich uns durch die gläsernen Lifttüren ein Blick auf verschiedenste Schuhe bietet. Einerseits sei es ziemlich praktisch, direkt über einem Schuhladen zu wohnen, andererseits käme sie dadurch aber auch ständig in Versuchung, einen Blick auf die Neuheiten zu werfen, gesteht uns Markwalder schmunzelnd. In der Wohnung angekommen, werden wir durch den wunderschönen Altbau geführt und können die herrlichen Stuckverzierungen an den Decken bewundern. Schnell zeigt sich die hochwertige, wohlüberlegte Inneneinrichtung. Hier scheint ein kreativer Geist gewirkt zu haben. «Die Wohnung hat mein Freund eingerichtet. Wenn das meine Aufgabe gewesen wäre, dann wäre es nicht ganz so schön rausgekommen», meint Markwalder lachend.
Faszination für das Recht
1981 wurde Nora Markwalder in Lübeck, Deutschland, geboren, da ihr Vater dort eine Beschäftigung als Assistenzarzt innehatte. Sie blieben aber nicht lange. Als sie zwei Jahre alt war, zog die Familie wieder zurück in die Schweiz und zwar direkt nach St. Gallen. Ihr Vater nahm eine Stelle als Rechtsmediziner an. In der Ostschweiz verbrachte Markwalder den Grossteil ihrer Kindheit und Jugend bis hin zur Matur.
Ein Interesse und eine Prägung für das Recht sei definitiv schon von Kindesbeinen an dagewesen und kam auch ganz klar vom Vater her. Natürlich habe sie gewusst, was er mache. «Es ist schon eher aussergewöhnlich, sich mit toten Menschen zu beschäftigen.» Wenn der Vater Pikettdienst hatte, habe auch öfters die Polizei angerufen. Als Kind sei sie immer wieder erschrocken, als plötzlich die Polizei am Telefon war. Sie habe somit schon früh gelernt, selbständig mit solchen Dingen umzugehen. Ihre Kindheit sei sehr ruhig und glücklich verlaufen. Ihre Eltern hätten grossen Wert darauf gelegt, dass die Kinder eigenständig seien. «Unsere Eltern hatten grosses Vertrauen in uns und liessen uns alle möglichen Freiheiten.»
Das Leben als Studentin
Nach der Matur ging Markwalder an die Universität Lausanne, da sie von Anfang an Kriminologie studieren wollte und dieser Master-Studiengang zu dieser Zeit nur in Lausanne angeboten wurde. «Als Jugendliche habe ich sehr viele Bücher über Pro- filing und Serienmörder gelesen. Das hat mich schon immer fasziniert.» Dabei spielte die Prägung durch den Vater sicherlich eine grosse Rolle. Vor allem die Ursachen für das Begehen einer Straftat, und nicht nur die eigentliche Bekämpfung mithilfe des Strafrechts, interessierten sie dabei: «Das Verstehen, wieso jemand straffällig wird.»
Nach der Entscheidung für den Master stellte sich die Frage, welches Grundstudium sie zunächst belegen möchte. Markwalder entschied sich daraufhin für Rechtswissenschaften ebenfalls gleich in Lausanne. «Nachdem ich in St. Gallen bereits aufgewachsen bin, wollte ich so weit weg wie möglich von zu Hause studieren und etwas anderes sehen.» Schwierigkeiten zu Beginn seien wie in jedem Studium dagewesen, dies natürlich verbunden mit der anderen Sprache. Diese konnten aber relativ schnell überwunden werden. «Ich war eher eine zurückhaltende, aber motivierte und interessierte Studentin.» Sie habe nie in der ersten Reihe gesessen und auch nicht ständig Fragen gestellt, weshalb sie es auch verstehe, wenn Studenten in ihren Vorlesungen nicht mitmachen wollen. Dies hatte auch vor allem damit zu tun, dass zu Zeiten ihres Studiums alles sehr theoretisch war und es üblich war, dass man als Student nur dem Professor zuhörte und keine Fragen stellte.
Das Schöne am Studium seien vor allem die vielen Freiheiten gewesen. Es war weniger strukturiert, trotzdem sehr schulisch. «Ich erinnere mich gerne an die geselligen Momente. Es gab oft Apéros, man ging an Studentenpartys und lernte die Stadt besser kennen. Das war ein Rhythmus, den ich sehr genossen habe.» Andererseits habe sie das Studium auch als zu theoretisch empfunden. Von der juristischen Praxis habe man nicht viel mitbekommen. Sie habe sich deshalb früh geschworen, sie wolle das einmal alles anders machen, weshalb sie in ihren Vorlesungen immer versuche, auch aus der Praxis zu erzählen.
Damals sei es auch nicht üblich gewesen zu arbeiten, da man über die ganze Woche verteilt regelmässig Vorlesungen hatte. Sie habe jedoch jedes Jahr während des Semesterbreaks am Autosalon in Genf gearbeitet. «Der Horror! Ich arbeitete für eine eher konservative Automarke, bei welcher wir unbequeme Stöckelschuhe tragen mussten.» Es sei aber immer sehr lustig gewesen, da sich jedes Jahr die gleichen Leute wieder getroffen haben.
Mit dem Fischen zur inneren Ruhe
Nach einem Auslandaufenthalt während des Master-Studiums in Amerika ging Markwalder an die Universität Zürich zu Martin Killias und doktorierte. Daraufhin folgte eine Anstellung als Gerichtsschreiberin am Bezirksgericht in Dielsdorf. «Ich rate jedem, der eine Anwaltsprüfung ablegen möchte, im Vorhinein unbedingt ans Gericht zu gehen und dort Erfahrungen zu sammeln.» Man lerne viel, und fachlich sei es sehr vielschichtig.
Auf die Anwaltsprüfung folgte eine Anstellung in einer Zürcher Anwaltskanzlei, welche sich lediglich auf Strafrecht spezialisiert hat. «Es war für mich ungemein wichtig, auch zu wissen, wie es in der Praxis zu und her geht.» Man komme in Kontakt mit Leuten, denen man sonst nicht begegnen würde. Dies bringe einem viel mehr, als wenn man nur das Strafgesetz kenne. «Ich wollte nie eine blosse Theoretikerin sein, deshalb ist mir diese Praxistätigkeit unglaublich wichtig.»
Im Zusammenhang mit ihrer Praxistätigkeit gebe es natürlich auch Fälle, bei denen sie selber das Gefühl habe, das sei ungerecht. Vor allem wenn sie die Person kenne, dann gehen solche Schicksale schon sehr nahe. Bei vielen Klienten müsse man sich aber auch bewusst sein, dass sie sich selbstverschuldet in jene Situation manövriert haben. «Ich versuche, mich dann davon abzugrenzen und mir zu sagen, dass ich jetzt nicht mehr machen kann.» Wir fragen uns, ob eine idealistische Einstellung gegenüber dem Recht als solches hilft, auf rationale, professionelle Art und Weise mit solchen Situationen umzugehen? «Nicht unbedingt ein idealistischer, sondern eher ein pragmatischer, also realistischer Blick auf das Recht hilft dabei sicherlich.» Fakt sei, dass es viele Grenzen im Recht gebe. Das sehe man im Studium nur bedingt, wenn überhaupt. «Recht und Gerechtigkeit: Das ist nicht das Gleiche!» Deshalb sei es unabdingbar, sich immer wieder den Wunsch oder wohl eher das Ziel vor Augen zu führen, seinem Klienten zu helfen und dessen gegenwärtige Lage zu verbessern. Die Bewahrung eines gewissen Idealismus sei sicher nicht schlecht. Neben der Praxistätigkeit arbeitet Markwalder an der HSG an ihrer Habilitationsschrift und ist ebenfalls als Assistenzprofessorin in der Lehre tätig. Mit diesen verschiedenen, beruflichen Anstellungen ist es unabdingbar, einen Ausgleich zu finden. Diesen schaffe sie sich mit viel Sport. In ihrer Freizeit gehe sie oft fischen. «Wenn ich irgendwo alleine am Wasser bin, dann kann ich das ungemein geniessen und vollkommen abschalten.» Als Kind sei sie bereits mit sechs Jahren mit ihrem Vater regelmässig fischen gegangen. Am meisten gefalle ihr der Kontakt zur Natur und die Ruhe. «Natürlich ist auch ein gewisser Ehrgeiz vorhanden, wirklich etwas fangen zu wollen.»
Nach einer Stunde verabschieden wir uns von Nora Markwalder, einer überaus spannenden Persönlichkeit, die uns sympathischer und vor allem bodenständiger nicht hätte erscheinen können, und fahren mit dem Lift wieder hinunter – vorbei an den zahl- reichen ausgestellten Schuhen.
Bilder Simone Brunner