Sind wir hier sicher?

Gewaltexzesse an ausländischen Schulen und Universitäten werfen lange Schatten auf Schweizer Bildungsinstitute. Das wachsende Bewusstsein für die Gefahr von Amokläufen geht mit der Frage einher, ob die Sicherheitsstandards an Schweizer Schulen und Unis noch zeitgemäss sind. Wie ist es um die Sicherheit an der Universität St. Gallen bestellt?

Seine Anschlussbemühungen hatten sich in unterschiedliche Formen gekleidet: ein Gesprächsversuch hier, ein Sich-zur-Gruppe-gesellen dort. Sie waren unbeachtet geblieben. Lange genug hatte er die Anwürfe studentischer Einsamkeit ertragen. Nun war es für ihn an der Zeit zu handeln. Das Bibliotheksgebäude der Universität St. Gallen, Montagmittag. In der Mensa herrscht beinahe industrielle Betriebsamkeit. Fallstudien werden lärmend diskutiert, man lässt das Wochenende Revue passieren, während man zu Mittag isst. Der Lautstärkepegel ist grenzwertig. Assessment- Studenten strömen in die BWL-Vorlesung, das Audimax ist bis auf den letzten Platz und darüber hinaus gestopft. Thomas L. nähert sich dem Gebäude in martialischer Aufmachung. Als introvertiert, mitunter sonderlich, wird er beschrieben. Seine Mitstudenten sind für ihn – befeuert durch die erfahrene Ablehnung – blosse Projektionsflächen seines Frusts. Was folgt, ist das Ergebnis minutiöser Planung. Thomas L. weiss: Die beengten Platzverhältnisse im Audimax erschweren eine sichere Deckung, komplizieren eine rasche Flucht. Zu den Fanfaren der Schulglocke stürmt er ins Audimax und zieht umgehend seine Waffe. Nach einem Moment des Innehaltens löst sein Anblick tumultartige Szenen aus. Schreie hallen an den grauen Wänden wider; die Anwesenden: eine Masse aus Körpern, die sich aus dem Korsett von Stühlen und Bänken herauszuwinden versucht oder in Todesangst kauert. Thomas L. betätigt den Abzug und ein erstes Opfer legt sich nieder, um nie wieder aufzustehen.

Während das eingangs skizzierte Szenario für Schweizer Universitäten hoffentlich Fiktion bleibt, werden die Bildungseinrichtungen gewisser Länder immer wieder von Amokläufen heimgesucht. Das Beispiel der Vereinigten Staaten drängt sich auf. Schauplätze wie die Columbine High School oder die Newton Elementary School stehen stellvertretend für eine Reihe grausamer Massaker, die sich tief in die Gedächtnisse eingebrannt haben. Die Gründe für solche Gewaltakte sind schwierig zu bestimmen. Oftmals bleibt den Beteiligten nur, Mutmassungen über die persönlichen Motive der Verantwortlichen anzustellen. Waren Demütigungen im Unterricht ausschlaggebend, trieben psychische Probleme den Täter zum Äussersten?

Die Situation in der Schweiz präsentiert sich ungleich moderater. Gelegentliche Drohungen gegen einzelne Mitarbeiter beiseite, wurde bislang noch nie ein Amoklauf an einer Schweizer Schule oder Uni registriert. Dieser Befund vermag aber nicht die Tatsache zu verschleiern, dass es ausserhalb von Schweizer Bildungsinstituten bereits zu einer Reihe von Amokläufen kam. Gerade die Bluttat im Zuger Parlament im September 2001, bei der ein schwerbewaffneter Mann vierzehn Angehörige des Zuger Kantonsrats erschoss und sich anschliessend selbst richtete, bleibt in schmerzlicher Erinnerung. Zwischenfälle wie jener in Zug und die Massenmorde an amerikanischen Schulen haben die Schweizer Gesellschaft für die Eventualität eines Amoklaufs sensibilisiert. Die Einkehr dieses neuen Bewusstseins überträgt sich indes auch auf Schweizer Bildungsinstitute: Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit investieren immer mehr Schulen in bauliche Massnahmen und ausgereifte Notfallkonzepte, um sich für den Ernstfall zu wappnen.

Wie präsentiert sich die Sicherheitssituation an der Universität St. Gallen? Amokläufe zielen darauf ab, Aufmerksamkeit zu generieren. Staatliche Hochschulen, die eine gewisse Ausstrahlungskraft geniessen, würden sich also anbieten. Wie gross die Gefahr eines Amoklaufes tatsächlich ist, lässt sich dennoch nur schwer abschätzen. Für Sicherheitsfragen dieser Art zeichnet die HSG-Verwaltungsdirektion unter der Leitung von Markus Brönnimann verantwortlich, welcher uns Einblick in das universitäre Sicherheitskonzept gewährt hat. Dieses beruht auf vier Hauptpfeilern: einem Krisenteam, einem Krisenstab, von der Universität beauftragten Sicherheitskräften sowie einem eingespielten Kontakt zu den Blaulichtorganisationen. Da die Wahrscheinlichkeit eines Zwischenfalls gering ist, verantworten nicht eigens dafür geschaffene Stellen die Sicherheit auf dem Campus. Die Aufgabe fällt in den subsidiären Aufgabenbereich noch anderweitig betrauter Universitätsangestellter. Dass die Ausarbeitung eines fundierten Sicherheitskonzepts nur unter Beizug externer Fachkräfte erfolgen konnte, in diesem Fall den Blaulichtorganisationen, leuchtet ein. Mittlerweile haben sich einige Kantone sogar angeschickt, die Sicherheitskonzepte trotzdem ihrer Bildungsinstitute kantonsweit zu harmonisieren. Seitens des Kantons St. Gallen bestehen aber keine Vorgaben für ein standardisiertes Konzept.

Massnahmen im Hinblick auf mögliche Amokläufe verlaufen in zwei Stossrichtungen: Amokprävention sowie Notfallpläne für den Ernstfall. Die Universität St. Gallen legt ihr Augenmerk bei Früherkennung auf die universitätsinternen Fachund Beratungsstellen. Wird dort eine Auffälligkeit registriert, gelangt diese Information zu den Sicherheitsbeauftragten und kommt anschliessend beim Generalsekretariat zur Sprache. Für den Fall, dass die Prävention versagt, wird auf den Amok- Notfallplan der Kantonspolizei St. Gallen zurückgegriffen. Dieser liest sich eher allgemein: Alarmieren – Täterkontakt vermeiden – Schutz suchen – Ruhe bewahren. Welche Mechanismen im Ernstfall hinter den Kulissen der HSG spielen, darüber hält man sich aus taktischen Gründen bedeckt, um den Erfolg der Gegenmassnahmen nicht zu untergraben. Da die Weisungsbefugnis während einer Gefährdungslage einzig den Fachkräften obliegt, ist eine vorgängige Instruktion der Dozenten und Mitarbeiter wenig sinnvoll. Eine Evakuationsübung während des Studienbetriebs erachtet die Verwaltungsdirektion als unverhältnismässig. Im Gegenzug wird viel Wert auf die Ausbildung und das Training der Krisenteams gelegt, welches in enger Abstimmung mit den Behörden sowie externen Fachleuten aus dem Bereich Sicherheit erfolgt.

Ob die Sicherheitsvorkehrungen vor dem Hintergrund fehlender Erfahrungswerte genügen, ist kaum zu bestimmen. Die Situation gestaltet sich für die Verantwortlichen jedenfalls schwierig. Im Spannungsfeld zwischen Sicherheitsgewährleistung und Aufrechterhaltung des normalen Universitätsbetriebs gilt es, das richtige Verhältnis auszutarieren. Inwieweit kann auf störendes Sicherheitspersonal verzichtet werden, ohne die Sicherheit der Studentenschaft zu gefährden? Gibt es die absolute Sicherheit überhaupt? Für die Verantwortlichen ein Balanceakt.


Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

*

*

*