Sonntags guten Gewissens in Konstanz

Die Prüfungen stehen vor der Tür, aber die Tore zur Universität sind verschlossen. Klarer Fall: Es ist Sonntag. Zu Hause fällt das Lernen schwer, aber noch viel schwerer würde das schlechte Gewissen wiegen, blieben die Bücher auch heute wieder von den Leuchtstiften verschont. Was also tun? Ganz einfach: Mein Gewissen und ich fahren zur Kur nach Deutschland.

Bestimmt hat sich der eine oder andere von euch auch schon gefragt, wieso die Bibliothek der HSG am Sonntag nicht geöffnet ist. Besonders während der Prüfungszeit wären die Studenten froh darum. Nachweislich lernen viele von uns, eingepfercht mit Gleichgesinnten und unter ständiger Beobachtung der Peergroup, relativ effizient.

Eine Antwort auf diese Frage habe ich leider noch nicht gefunden, dafür aber ein Substitut. Für manche ist das, was ich an diesem Sonntag versucht habe, nichts Besonderes, andere fassen sich an den Kopf: Lernen in der Universität Konstanz. Deren Bibliothek ist unter der Woche rund um die Uhr und selbst am Sonntag von 8 bis 23 Uhr geöffnet. Diesen Service kennt man hierzulande nicht mal vom Fad-Food-Restaurant.

Die Reise

Die Fahrt durch den schneebedeckten Kanton Thurgau entlang des Bodensees trifft den Geschmack jedes Gerne-aus-dem-Zug-Kuckers und hält mich erwartungsgemäss davon ab, meine Karteikarten zu zücken. Das Gewissen ist damit aber einverstanden, es weiss ja, dass ich anschliessend in der Bib lerne. Der Spass dauert etwa eine Stunde und ist mit CHF 8.70 (Halbtax, Rückweg mit Gleis 7) eine finanzierbare Investition. Anders sieht es dann aber auf der anderen Seite der Grenze aus. Sonntags fahren nämlich keine Busse zur Uni, abgesehen von zwei einsamen Exemplaren, die sich nach acht Uhr abends ihren Weg zur Bildungsstätte bahnen. Verwirrt betrete ich das Tourismusbüro der deutschen Bahn, um es dann nach fünf Minuten mit der Begründung «Zur Uni? Aber da will sonntags doch keiner hin» wieder zu verlassen. Der Beamte kennt wohl weder den Schweizer Service public noch die HSG. Vor meinem geistigen Auge formiert sich die Uni Konstanz zu einem gottverlassenen Ort, wo man nur in den hintersten Ecken mit Hornbrillen und Spinnweben behangene Lernsüchtige findet. Zumindest gottverlassen stimmt teilweise. Das Taxi brauchte ganze zehn Minuten, alias 9.50 Euro, um mich vom Bahnhof zur entlegenen Akademie zu bringen. Meinem Lern-Gewissen ist es egal, aber das Spar-Gewissen heult.

Die Uni

Das Unigelände ist deutlich grösser als jenes der HSG, aber auch deutlich … na ja, sagen wir mal «architektonisch freizügiger». Ich fühle mich, als hätte ich eine Mischung aus Heimwerker-Baumarkt und besucherarmer Kunstmesse betreten. Bei meiner Hornbrillen-und-Spinnweben-Vermutung lag ich dann aber krass daneben. Die ersten Personen, die mir auf dem Gelände entgegenkamen, waren (ohne Witz) drei HSGler. Zum Glück trug einer der Herren einen schönen Kapuzenpullover mit dem Schriftzug der Universität St. Gallen – sonst hätte ich es nicht einmal gemerkt (ich entschuldige mich an dieser Stelle für die Schleichwerbung. Ach, was soll’s: www.hsgshop.ch). Besonders lobenswert an der Innenausstattung finde ich die Snack-Automaten. Sandwiches waren am Sonntagnachmittag natürlich aus, aber dafür entdeckte ich allerlei Müsliriegel und andere magenfüllende Dinge zu kleinen Preisen. Mein Apfelkuchen blieb (natürlich) im Automat stecken, als ich ihn mit einem Eurostück herauslocken wollte, aber das liegt wahrscheinlich an meiner Aversion für höhere Technik. Nachdem der Kampf mit dem Automaten also in einem Patt endete, schnappe ich mir ein Schliessfach und betrete frischen Mutes die Bibliothek.

Das Lernen

Am Eingang der Bibliothek begrüsst mich ein älterer Herr, der so aussieht, als wäre er bereits gänzlich mit seinem Drehstuhl verschmolzen. Er sitzt wohl den ganzen Tag in diesem gräulichen Eingangsbereich und hat ein wachsames Auge darauf, wer alles ein und aus geht. Ich fühle mich so zwar irgendwie beobachtet, aber auch individuell betreut. Da ich mich hier wohlfühlen will, lasse ich das zweite Gefühl obsiegen.

Die Platzsuche hat für mich dann etwas sehr Individuelles an sich: Keine Stuhl- oder Tischgruppe gleicht farblich oder in ihrer Bauart der anderen. Ich entscheide mich für einen Vierbeiner, den ich aus dem Werkunterricht zu kennen glaube, und eine kleine grüne Sitzgelegenheit mit sympathisch wackelnder Polsterlehne. Erwartungsgemäss ist die Bib nicht voll, aber es herrscht trotz ihrer enormen Grösse eine gewisse Betriebsamkeit, so dass ich mir auch nicht zu einsam vorkomme. Abwechslung vom BWL-Buch finde ich, wenn ich will, wie auch an der HSG in einer Zeitungsecke. Besonderer Pluspunkt hier: gesässfreundliche Kuschelsofas statt zölibatärer Stühle.

Ich persönlich habe an diesem Tag ausgesprochen effektiv gelernt. Kann sein, dass das mit dem schlechten Gewissen für die 9.50 Euro-Taxi-Fahrt zusammenhängt (mein Gewissen kümmert es wenig, dass das Sunk-Costs sind), vielleicht aber auch damit, weil ich aus Mangel an Bekanntschaften nicht zu exzessiven Cafépausen aufgefordert wurde.

Das Fazit

Mein Lerngewissen ist beruhigt, der Ausflug nach Konstanz hat sich gelohnt. Die andersartige Umgebung hat mich zum Auswendiglernen beflügelt und nach fünf Stunden Arbeitsspeichertraining fühle ich mich auch schon ganz heimisch in den deutschen Gemäuern. Trotzdem wäre es mir lieber, auch wegen meines Spar-Gewissens, unsere Uni hätte auch am Sonntag geöffnet; ganz nach dem Motto: «Zu Hause ist es immer noch am schönsten.»


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