Soziale Apokalypse – auf direktem Weg in den Abgrund?

prisma beleuchtet drei der wichtigsten sozialen Brennpunkte der Zukunft und hat dazu auch Prof. Kolmar, neu bei der Forschungsgemeinschaft für Nationalökonomie, befragt. Er nennt Migration, Demokratisierung und das weltweite Ernährungsproblem als einige der Top-Themen des 21. Jahrhunderts.

Allein im Jahr 2010 litten laut Welthungerhilfe zirka 925 Millionen Menschen unter Mangelernährung und ihren Folgen. Dabei produziert die weltweite Landwirtschaft bereits heute genug Nahrungsmittel, um 10 Milliarden Menschen zu ernähren.

Der Film «We feed the world», der bereits vor fünf Jahren erschien, greift diese Thematik kritisch auf. Geschildert wird vor allem die Massentierhaltung in den westlichen Industrieländern, die im krassen Gegensatz zur Dritte-Welt-Nahrungsmittelproblematik steht. Zu Wort kommt unter anderem auch Nestlé-Chef Peter Brabeck mit dem Vorschlag, dass Wasser «wie jedes andere Lebensmittel einen Wert und einen Preis haben sollte».

Grundsätzlich entspricht dies den Forderungen des Coase Theorems, laut dem ein Marktergebnis nur durch die Zuweisung von Eigentumsrechten effizient sein kann. Für die Forderung von Peter Brabeck sprechen aber auch Angaben von WWF und WHO. Demnach benötigt ein Mensch zur Deckung seines täglichen Lebens- und Hygienebedarfes nur 25 l. Diesen Grundbedarf ohne weitere Bedingungen bereitzustellen, ist für Peter Brabeck eine Selbstverständlichkeit, wie er in einem kürzlich veröffentlichten Interview klarstellt: «Es ist überhaupt kein Problem, diesen Grundbedarf für alle zu garantieren, denn er macht weltweit gerade nur zwei Prozent des jährlichen Wasserabzugs aus.» Eine Person aus den westlichen Industrieländern verbraucht hingegen zirka 295 Liter pro Tag, was dem sechsfachen Wert des Grundbedarfs entspricht. Angesichts dieses Mehrverbrauchs steht ausser Frage, dass ein akuter Handlungsbedarf besteht.

Wirtschaftliche Ressource Wasser

Privatisierung wäre eine Möglichkeit. Eine Möglichkeit, der mit Sicherheit auch Peter Brabeck nicht ganz abgeneigt wäre. Schliesslich war er jahrelang CEO und sitzt auch seit geraumer Zeit im Verwaltungsrat von Nestlé, dem weltweit grössten Nahrungsmittelkonzern.
Eine Führungsrolle übernimmt Nestlé auch, wenn es darum geht, Wasser zu verkaufen und zu vermarkten. Bereits seit Jahren kauft Nestlé weltweit gezielt Trinkwasserquellen auf, um sie wirtschaftlich zu nutzen. Dass diese Strategie bei der jeweils einheimischen Bevölkerung nicht nur auf Gegenliebe stösst, beweist ein Fall aus Brasilien. Perrier-Vittel, eine Tochterfirma des Nahrungsmittelkonzerns, wurde im Jahr 2000 von betroffenen ortsansässigen Kleinbauern verklagt, die sich beschwerten, dass aufgrund der intensiven kommerziellen Nutzung der Quellen der Grundwasserspiegel abgesunken sei. Die Probleme gingen sogar so weit, dass selbst nach der gerichtlich verordneten Aufgabe der Quellnutzung im Jahr 2006 einige der Quellen nicht mehr nutzbar waren.
Eine unregulierte Privatisierung führt demnach zu keinem befriedigenden Ergebnis. Trotzdem müssen in Bezug auf Wasser und andere Ressourcen Mechanismen gefunden werden, die verhindern, dass «heute eine Party geschmissen wird, über deren Finanzierung wir erst morgen nachdenken», so Prof. Kolmar.

Freiheit und Demokratie

Andernorts ist die Party aus anderen Gründen zu einem abrupten Ende gelangt: Für Staatschefs wie Ben Ali, Mubarak und Ghadhafi ist der Tag der Abrechnung gekommen. Der Drang nach Freiheit wird immer lauter. Nach Tunesien und Ägypten brennt nun auch Libyen, und bis zum Erscheinen dieser Ausgabe wird der Umsturz wohl vollzogen sein.

Die Unruhen in Nordafrika stehen exemplarisch für eine Welt, die politisch noch lange nicht gefestigt ist. Vor allem auf nationaler Ebene wird es in Zukunft im Zuge der politischen Umwälzungen vermehrt zu Konflikten kommen. Bereits seit Jahren verzeichnet das Heidelberger Institut für Konfliktforschung in diesem Zusammenhang einen Anstieg bei der Zahl der Bürgerkriege. Im Vergleich dazu hat die Zahl der konventionellen zwischenstaatlichen Konflikte in den letzten Jahren abgenommen.

Angeheizt werden die nationalen Konflikte durch eine immer weiter auseinandergehende Schere zwischen Arm und Reich. Neben der fortschreitenden Globalisierung ist ein Grund für die Spannungen die in nordafrikanischen Ländern sehr junge Bevölkerung, die ihren Teil des Wohlstands und der Freiheit einfordert. Ob diese Umwälzungen jetzt und in Zukunft in demokratischen Staatsformen münden, ist zum heutigen Zeitpunkt mehr als fraglich. Schliesslich haben wir mit China und Russland mittlerweile zwei Beispiele von autoritären beziehungsweise semidemokratischen Regimes, die wirtschaftlich sehr erfolgreich agieren. Durch gross angelegte Wirtschafts- und Infrastrukturprojekte hat die Volksrepublik in Afrika bereits mehr als nur einen Fuss in der Tür und könnte entscheidenden Einfluss auf die politische Entwicklung der revoltierenden Staaten nehmen. Dass dieser Einfluss ein demokratischer ist, ist laut Kolmar abwegig: «Wir geben uns einer naiven Illusion hin, wenn wir sagen, dass sich China schon im Sinne unserer Freiheitsrechte demokratisieren werde.» Es gäbe weder eine Einbahnstrasse zur Demokratie noch Hinweise darauf, dass die Kommunistische Partei demokratische Reformen anstossen werde, nicht im eigenen Land, geschweige denn im Ausland.

Es könnte allerdings auch sein, dass die berühmten Worte des amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama widerlegt werden und die Maxime in Zukunft heisst: Das Ende der Geschichte muss eher als Anfang für neue Veränderungen gesehen werden denn als Sieg der liberalen und marktwirtschaftlichen Werte. Besonders an den Beispielen Chinas und Russlands wird klar, dass es nach wie vor unterschiedliche Ansätze gibt. Die Existenz universeller Werte oder, wie Kolmar es bezeichnet, «eines One-Size-Fits-All-Lösungsschemas» muss zu Gunsten einer komplexen Weltordnung verneint werden. Ob wir in Zukunft mit einer weiteren Demokratisierungs- oder einer neuen Autokratisierungswelle rechnen dürfen, wird sich deshalb noch zeigen.

Festung Europa

Nichtsdestotrotz scheinen die demokratisch und marktwirtschaftlich organisierten Staaten weiterhin eine grosse Strahlkraft zu besitzen. Dies zeigt sich vor allem am Beispiel der Staaten der Europäischen Union. Durch den Fall der Regimes in den nordafrikanischen Ländern kehrt die Frage der Migration in die politische Tagesordnung zurück. Wohin mit den Flüchtlingen, die zu Tausenden auf die italienische Mittelmeerinsel Lampedusa drängen? Aufnehmen? Wie die fast schon erdrutschartige Zustimmung der Schweizer zur Ausschaffungsinitiative und zum Minarettverbot gezeigt hat, wirft dieser Vorschlag aber ein ganz basisdemokratisches Problem auf. Prof. Kolmar: «Die politische Akzeptanz von mehr Diversität ist beschränkt.» Das zeigt sich nicht nur im Land der Eidgenossen: In Deutschland ist Multikulti tot, in Frankreich werden Sinti und Roma ausgeschafft und in den Niederlanden sind die Rechtspopulisten am Wildern.

Über Grenzen hinweg

Beobachten lässt sich jedoch auch eine starke Tendenz zum «stereotyping», das von manchen Medien gezielt aufgegriffen wird. Häufig entstehen in diesem Zusammenhang sich selbst verstärkende Eigendynamiken. Das «stereotyping»-Phänomen ist Professor Kolmar ein besonderes Anliegen: «Wir müssen Grautöne aushalten und Schwarz-Weiss-Denken vermeiden.» Dadurch können Hemmschwellen und Barrieren, die innerhalb der Bevölkerung aufgebaut worden sind, wieder effektiv abgebaut werden. Die Schweiz, Europa und die Welt werden mit der Lösung dieser Probleme grosse Herausforderungen zu meistern haben. Dabei werden grundlegend unterschiedliche Vorstellungen aufeinanderprallen und hitzig diskutiert werden.

Professor Kolmar schliesst dagegen mit einem grundsätzlicheren Anspruch:«Wir sollten bei all unseren Überzeugungen und Meinungen die Möglichkeit eines Irrtums mitbedenken.»


Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

*

*

*