Rathaus St. Gallen, Top floor. prisma trifft den St. Galler Stadtpräsidenten zu einem Gespräch über seine Faszination für die Stadt, die Zutaten einer erfolgreichen Karriere und den Nutzen des St. Galler Management Modells.
Herr Scheitlin, wie kamen Sie zu Ihrem Amt?Ich bin eigentlich kein geborener Politiker, meine Herkunft liegt in der Privatwirtschaft. Nach meinem Studium an der HSG stieg ich bei Novartis ein und war daraufhin bei der UBS tätig. Für sechs Jahre amtierte ich als Präsident der Ortsbürgergemeinde St. Gallen und wurde vor acht Jahren zum Stadtpräsidenten von St. Gallen gewählt. Als typisch politische Laufbahn würde ich das nicht bezeichnen.
Wie kam es zum Schritt von der Privatwirtschaft zur Ortsbürgergemeinde?Als Direktionsmitglied der UBS stand ich nicht unter Zugzwang, etwas ändern zu müssen. Ausschlaggebend für den Rückzug aus diesem Beruf war dessen Ausrichtung auf kurzfristige Themen. Ich habe mich also vom Angestelltenverhältnis in eine unternehmerische Rolle bewegt, das hat mich gereizt. Besonders gefiel mir die Unabhängigkeit und die Verantwortung, Führungsperson in einem kleinen Unternehmen zu sein.
Karriereweg und Studium weisen bei Ihnen also einen starken Zusammenhang auf?Zweifellos. Viele Dinge, die ich während der Führung eines KMU umsetzen konnte, habe ich an der Universität erlernt. Dazu gehört der ganze betriebswirtschaftliche Hintergrund wie Strategieentwicklung und Management. Durch den direkten Einstieg in die Berufswelt nach dem Studium konnte ich das Erlernte sogleich in die Praxis umsetzen. Später kam dann das Management dazu. In diesem Bereich fanden vor allem die Tools des St. Galler Management Modells Anwendung. Ja, schon zu meiner Zeit stand das auf dem Lernplan.
Hatten Sie schon immer ein bestimmtes Berufsziel?Während des gesamten Studiums war mir klar, dass ich später international tätig sein möchte. Das hatte sicher damit zu tun, dass ich viele Freundschaften im Ausland pflegte. Meine Karriereplanung richtete sich nach dem Ziel, eine Managementposition zu übernehmen. Ich mag den Kontakt zu Menschen und deren Führung. So wollte ich die erlernten Führungstools direkt umsetzen.
Was ist Ihr Bezug zu St. Gallen?Ich bin in St. Gallen aufgewachsen und hier absolvierte ich meine gesamte Ausbildung. Meine Familiengeschichte reicht bis zum Mittelalter zurück. So empfinde ich eine tiefe Verbundenheit zu dieser Stadt und es liegt mir am Herzen, aktiv zu ihrer Weiterentwicklung und ihrem Fortschritt beizutragen.
Welcher Ort in St. Gallen fasziniert Sie besonders?Die Lokremise. An diesem Ort treffen Tradition und Fortschritt aufeinander. Sie symbolisiert einerseits die Vernetzung der Stadt mit der Welt, andererseits steht sie für Innovation und Zukunft. Die Strategie der Stadt St. Gallen besteht in der Weiterentwicklung von Tradition in die Moderne und genau dies verkörpert die Lokremise. Ein Sprichwort besagt: Tradition heisst nicht, Asche zu bewahren, sondern das Feuer am Leben zu erhalten. Darin besteht Fortschritt meiner Meinung nach.
Sie engagieren sich sehr für die Kultur der Stadt. Weshalb?Kultur ist ein Standortfaktor. Wer über ein gutes kulturelles Umfeld verfügt, empfindet Heimatgefühl und kann Lebensqualität vermitteln. Im Vergleich zu anderen Städten zeichnet St. Gallen sich durch ein vielfältiges und einmaliges kulturelles Angebot aus.
Inwiefern beeinflusst die HSG St. Gallen?Die Universität St. Gallen verkörpert auf der einen Seite Bildung, Wissen und Forschung. Auf der anderen Seite zeugt sie von starker Internationalität, deren Ausstrahlung bis jenseits der Grenzen reicht. Die HSG transportiert den Namen der Stadt. Ausserdem trägt die Universität viel zur Entwicklung der Gesellschaft bei, indem sie studentisches Leben in die Adern der Stadt fliessen lässt und St. Gallen einen jugendlichen Charakter verleiht.
Können Sie im Vergleich zwischen Ihrer Studienzeit und der Gegenwart gewisse Veränderungen beobachten?Früher war ein deutlicher Unterschied zwischen den Sphären der Stadt und der Universität spürbar. Inzwischen hat sich dieser deutlich verkleinert, Stadt und Universität stehen sich viel näher als damals. Dadurch spürt St. Gallen vermehrt den Einfluss der HSG, nämlich deren Internationalität. Bis heute hat der kulturelle Mix an Breite und Vielfalt zugelegt. Früher waren die Austauschmöglichkeiten beschränkter. Auch ich habe mein Studium ohne Auslandaufenthalt durchgezogen, weil damals die Militärpflicht im Vordergrund stand.
Mit Stadtpräsidium, zahlreichen Mandaten, Familie und sportlichen Aktivitäten sind Sie ein vielbeschäftigter Mensch. Wie schaffen Sie es, alles unter einen Hut zu bringen?Ganz klar, durch Zeitmanagement und Planung – anders würde es nicht gehen. Zeitmanagement bedeutet, permanent Prioritäten zu setzen. Ich bin ein sehr strukturiert denkender, aber dennoch flexibler Mensch. Diese Eigenschaften ermöglichen mir das Vereinbaren meiner vielseitigen Aktivitäten und spielen neben der kontinuierlichen Orientierung an einer Topleistung eine entscheidende Rolle auf dem Karriereweg. Eine Karriere hat aber auch viel damit zu tun, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.
Die heutige Gesellschaft sieht Phänomene wie Burnout. Wo stösst Ihrer Meinung nach der Leistungsgedanke an Grenzen?Es gibt einen wichtigen Punkt, den jeder einmal begreifen sollte: Leben, Leistung und Karriere verlaufen in Bahnen, die sich ständig abwechseln. Man kann nicht permanent doppelspurig unterwegs sein. Das Erbringen von Leistung soll Platz lassen für Auszeiten, in denen es gilt, abzuschalten.
Was möchten Sie den HSG-Studenten mit auf den Weg geben?Erstens spielt die Bereitschaft, Höchstleistungen zu erbringen, eine entscheidende Rolle. Zweitens gilt es aber auch, einen Ausgleich dazu zu finden. Man muss abschalten können und sich Freizeit nehmen, um über die eigene aktuelle Situation nachzudenken und diese kritisch zu hinterfragen. Das Zusammenspiel von Leistungsbereitschaft und Zeit für sich selbst ist von essentieller Bedeutung. Dazu gehören auch Niederlagen, nach denen es gilt, aufzustehen und vorwärts zu schauen.