«Velo ist unser Motto»

Die «Projekt-Werkstatt» beim alten Güterbahnhof in St. Gallen ist eine nicht gewinnorientierte Institution, die so genannte Einsatz- und Verzahnungsprogramme für erwerbslose Personen durchführt. Annika Sonderegger hat die Werkstatt besucht.

Eigentlich hätte ich einen Herrn um die vierzig erwartet, mit grauem Anzug und grauer Krawatte, mit grauen Haaren. Umso erstaunter war ich, als mir ein junger Mann in Jeans und T-Shirt entgegenkam und sich als Stefan Britt, einer der Arbeitspädagogen in der «Velo-Werkstatt», vorstellte. Er bot mir das «Du» und einen Kaffee an und schlug mir vor, sich zuerst an den Tisch vor der Werkstatt zu setzen. Dort erzählte er mir in lockerer Atmosphäre einiges zum Projekt «Velo-Werkstatt». «Velo ist unser Motto», erklärte Stefan. Ich erfuhr, dass das Projekt vom Bund mitfinanziert wird, dass die Velo-Werkstatt durch ihre Arbeit Geld verdient und dass davon wieder ein Teil an den Staat zurückgeht. Es ist also ein geschlossener Kreis oder wie Stefan sagt: «Es ist wie ein Velorad.»

«Recycling» – reparieren, restaurieren oder entsorgen

Ein wichtiges Thema für die Velo-Werkstatt ist «Recycling». Möglichst jedes Teil der Fahrräder, die die Werkstatt grösstenteils von der Polizei erhält, soll genutzt und somit «recycled» werden. Alte, noch funktionsfähige Fahrräder werden repariert, alte, nicht mehr fahrbare Fahrräder auseinandergenommen und nach ökologischen Kriterien «recycled». Die funktionstüchtigen Fahrräder werden dann entweder in Europa oder in Afrika wieder in Verkehr gesetzt. Ein Teil der reparierten Fahrräder wird aber auch direkt in der Werkstatt als Bahnhof- oder Zweitvelos günstig verkauft. Neben Reparaturen werden auch Restaurationen vorgenommen. Bei einer Restauration wird nicht nur darauf geachtet, dass das Fahrrad wieder funktionsfähig wird, sondern auch darauf, dass es möglichst stilgerecht restauriert wird. Auf ein «Old School»-Velo werden also möglichst auch ein «Old School»-Lenker und ein «Old School»-Sattel montiert. Solltet ihr also ein günstiges oder besonderes Velo suchen, so findet ihr das ganz bestimmt in der Velo-Werkstatt. Auch Reparaturen an euren alten Drahteseln könnt ihr durch das Werkstatt-Team ausführen lassen. Nur neue Fahrräder kann man weder kaufen noch zur Reparatur vorbeibringen, da dies in den Geschäftsbereich der kommerziellen Werkstätten fällt. Und übrigens, solltet ihr noch irgendwo unbenutzte alte Fahrräder haben, die ihr entsorgen möchtet, so bringt sie einfach vorbei. Sollten drei oder mehr solcher Zweiräder irgendwo in einem Keller abholbereit stehen, so werden diese sogar gratis abgeholt.

Private Probleme verbinden

Bald hatte mir Stefan alles über die Werkstatt erzählt, was ich ursprünglich wissen wollte – und noch vieles mehr. Langsam wurde ich ungeduldig, die Werkstatt mit eigenen Augen zu sehen. Eigentlich dachte ich, dass es ziemlich laut sein würde, immerhin hat die Werkstatt 30 Arbeitsplätze. Weiter stellte ich mir auch vor, dass die Stimmung ziemlich angespannt sein würde. Ich erwartete strenge Regeln und Hierarchien, um die Multikulti-Truppe unter Kontrolle zu kriegen. Auch hier wurde ich überrascht. Leise Musik war in der Halle zu hören, einige Arbeiter reparierten Velos oder nahmen sie auseinander. Zwei oder drei Arbeiter sprachen leise miteinander. «Die Abteilungen sind räumlich nicht getrennt», erklärte Stefan und erzählte weiter, dass dies eines der ersten Dinge war, die er änderte, als er neu in der Werkstatt anfing. Zwar werden die Arbeiten schwieriger und anspruchsvoller, je länger man am Projekt mitarbeitet, aber dies soll das Verhältnis zwischen den Arbeitern nicht beeinflussen und man sollte dies auch nicht räumlich sehen. «Die Stimmung ist ziemlich easy», meinte Stefan. Es wird zwar viel produziert und es muss auch wirklich gearbeitet werden, aber trotzdem geht es in der Werkstatt primär um die Integration und die Förderung der sozialen Kompetenzen der erwerbslosen Personen. Krisen zwischen den Arbeitslosen treten selten auf. Die privaten Probleme verbinden so sehr, dass auch kulturelle Unterschiede kaum eine Rolle spielen.

Hundertprozentiges Vertrauen gibt es nicht

Überall stehen Fahrradteile, Räder und Ersatzteile. Das Altteillager und das Neuteillager befinden sich auf der gegenüberliegenden Seite. Das Betreten des Neuteillagers ist für die am Programm Teilnehmenden verboten. Einige dort gelagerte Materialien kosten mehrere hundert Franken. Alles ist doch nicht anders, als ich erwartet habe – anscheinend kann man nicht allen Arbeitern von Anfang an hundert Prozent vertrauen. Gelegenheit macht Diebe. Die Cafeteria ist hell, Sonnenblumen stehen auf den Tischen. Für 5 Franken kann man die ganze Woche so viel Tee und Kaffee trinken, wie man möchte. Ein Preis, von dem wir Studenten nur träumen können. Überall herrscht Rauchverbot. Ein alter Armeehelm dient draussen als Aschenbecher, einmal pro Stunde darf man seiner Sucht nachgehen. Ein paar Regeln sind also doch nötig, damit auch etwas produziert wird. Stefan zeigt mir noch die Lagerhalle für die fertigen Fahrräder und einen Raum für spezielle Velos. Dort gibt es Rennvelos, welche neu 10’000 Franken gekostet haben, es gibt über 50-jährige Drahtesel oder ganz besondere Marken und Modelle.

Zum Schluss setzen wir uns wieder vor die Werkstatt. Es ist Pausenzeit und ich lerne auch die Arbeiter etwas kennen. Ob ihnen die Arbeit Spass macht? Die Begeisterung ist nicht gerade gross, aber «der Mensch muss gebraucht werden» und darum ist man angeblich doch froh, hier sein zu können. Es ist also doch nicht alles ganz anders als gedacht.

Projekt-Werkstatt
Güterbahnhofstrasse 6
9000 St. Gallen
www.projekt-werkstatt.ch
Öffnungszeiten für Kunden: Dienstag bis Freitag von 13.00-17.00 Uhr

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