Rechtswissenschaft muss nicht nur trockene Theorie sein. Das zeigen ein renommierter internationaler Wettbewerb und ein praxisnaher Kurs, der an der HSG für Juristen und Juristinnen angeboten wird.
Ein achtmonatiger, auf Englisch abgehaltener Wettbewerb der Rechtswissenschaften im Bereich des UN-Kaufrechts (CISG) und der Schiedsgerichtsbarkeit», mit diesen Worten beschreibt Florence Hediger den in Hong Kong und Wien stattfindenden «Willem C. Vis International Commercial Arbitration Moot». Sie und sieben weitere Master-Studierende waren dieses Jahr Teil des HSG-Teams – und konnten diverse Erfolge feiern.
Im April 2011 bewarben sich die insgesamt acht Studierenden um die Teilnahme am entsprechenden Kurs der HSG. Im darauffolgenden Herbstsemester 2011 begann für die Studierenden eine intensive Vorbereitungsphase: Abgesehen von den für die meisten Teilnehmenden neuen Rechtsbereichen galt es auch, sich mit Verhandlungstechniken, dem richtigen Verfassen von Klageschriften und dem anwendbaren Verfahrensrecht (CIETAC Rules) auseinanderzusetzen. Von renommierten Schweizer Anwaltskanzleien wurden Übungsrunden organisiert und es fanden «Pre-Moots», unter anderem in Shanghai, statt.
Zeitintensiv, aber erfolgreich
Dies ist natürlich sehr zeitintensiv und kostet Freizeit. Florence zufolge liegt das auch an der im Vergleich zu anderen Universitäten mageren Credit-Anzahl, die der Kurs einbringt. So bekämen Studierende an anderen Universitäten bis zu 30 Credits, während sich HSGler mit zehn davon begnügen und entsprechend weitere Kurse belegen müssten. Zudem sei die Suche nach Sponsoren für alle Auslagen eine weitere Herausforderung gewesen.
Im Oktober 2011 wurde der fiktive Fall bekannt gegeben. Dieser gliederte sich in einen materiellen und einen prozessualen Teil. Materiell ging es um ein Unternehmen, welches ein Schiff für Events vermieten wollte, aber den Mietvertrag schliesslich nicht erfüllen konnte. Im prozessualen Teil sorgte eine familiäre Beziehung zwischen einer Anwältin und dem Schiedsrichter für Aufregung. Dort, wo das anwendbare Recht keine eindeutige Lösung vorsah, begann die argumentative Herausforderung für die Studierenden.
Zur Lösung des Falls lagen (fiktive) Beschreibungen des Sachverhalts, Aussagen und Briefwechsel zwischen den Anwälten der Parteien vor. Auf deren Basis mussten die einzelnen Teams nun bis Dezember 2011 eine Klageschrift verfassen und erhielten kurz darauf diejenige eines anderen Teams, um eine Klageantwort zu schreiben. In den Finals in Hong Kong und Wien trafen schliesslich alle Teams aufeinander und plädierten abwechselnd für die Seite des Klägers und des Beklagten. Das HSG-Team schaffte es dabei als erstes und einziges Schweizer Team ins Halbfinale und wurde zudem für die Klageantwort ausgezeichnet. Eine Teilnehmerin wurde weiter für ihre rhetorischen Leistungen geehrt.
Auch wenn sie sich im April nicht noch einmal bewerben wird, war der Moot für Florence eine lehrreiche Erfahrung: «Die Schiedsgerichtsbarkeit und das CISG sind Rechtsbereiche, die während des regulären Studiums nur gestreift werden. Während des Moots lernt man zudem, seinen jeweiligen Klienten überzeugend zu vertreten und begegnet interessanten Menschen.»
Praxisnaher Kurs
Indes – nicht nur die Studierenden sind vom «gespielten» Prozessieren begeistert. Marianne Hilf, Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie sowie Patrick Guidon, Lehrbeauftragter für Strafrecht an der HSG und seit 2010 Richter am Kantonsgericht St. Gallen, sind ebenfalls davon überzeugt, dass das Durchspielen von Fällen den Studierenden Praxiserfahrung bringen kann. Daher möchten sie gemeinsam einen solchen Kurs für die Juristen-Programmen anbieten, der einige Unterschiede zum klassischen Moot bietet: Einerseits ist der Kurs im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts angesiedelt. Des Weiteren werden nicht fiktive, sondern anonymisierte, echte Fälle durch die Studierenden bearbeitet. «Einen theoretischen Sachverhalt, basierend auf einer fiktiven Beweislage, den hat man genauso auch in den Übungen. Aber gerade im Strafrecht sind die Sachverhalte in der Praxis nicht immer einfach ersichtlich und klar», so Guidon. Gerade zu Beginn seiner Zeit am Kantonsgericht habe er einen grossen Fall untersucht – mit rund 21’000 A4-Seiten Papier umfassenden Akten.
Aus ebendiesem Fall soll ein Satz anonymisierter Akten erstellt werden, bestehend aus Einvernahmeprotokollen und weiterem Originalmaterial. Die Studierenden werden dann in drei Gruppen eingeteilt: Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Gericht. Letzteres bildet auch einen Unterschied zum klassischen Moot, wo das «Gericht» eine Jury aus erfahrenen Rechtswissenschaftlern darstellt. «Im Hinblick darauf, dass einige Studierende später auch als Gerichtsschreiber oder Richter arbeiten werden, ist es praxisnäher, auch das Gericht aus Studierenden zu bilden.»
Wie bei einem echten Fall
Nach Analyse der vorliegenden Akten verfasst die Staatsanwaltschaft wie sonst auch eine Anklageschrift, die sie dem Gericht zu übermitteln hat. Dieses trifft dann mit Hilfe von Vorlagen verfahrensleitende Anordnungen. Nachfolgend lädt sie zur Hauptversammlung, die im Kantonsgericht stattfinden wird, wo sich Staatsanwaltschaft und Verteidigung mit ihren Plädoyers vor einem Publikum aus Erstsemestern gegenüberstehen. Zusammen mit einem offiziellen Gerichtsberichtserstatter soll so eine möglichst lebensnahe Verhandlungsatmosphäre erzeugt werden.
Im Herbstsemester 2012 wollen Marianne Hilf und Patrick Guidon den multidisziplinären Kurs, der neben juristischem Wissen auch Kenntnisse der Wirtschaftswissenschaften erfordert, erstmals für MLS- und MLE-Studierende anbieten – und hoffen auf eine rege Teilnahme. «So etwas bietet auch die Möglichkeit, einmal zu sehen, ob man die Disziplin und den Willen hat, sich durch einen Fall durchzubeissen.» Zudem sei bisher kein anderes Programm im deutschsprachigen Raum verfügbar, das in einem solchen Mass alltagsnah und lebendig ist und dabei die Aspekte beinhaltet, die Guidon beim Moot fehlen. «Der Kurs ist ein Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Praxis», so das Resümee.