Was der liebe Gott über die katholische Kirche sagen würde

Franco Buehlmann sinniert über Sinn und Unsinn von Religion und Kirche. Wer hat nicht auch schon diese Zweifel gehabt? Gibt es Ihn wirklich – den lieben Gott – oder ist alles nur ein Märchen? Und ist die Kirche wirklich die richtige Institution, um die Botschaft – oder eben das Märchen – zu erzählen?

Die Existenz Gottes wird in der Öffentlichkeit kaum ernsthaft hinterfragt. Ebenfalls wird selten bestritten, dass die Kirche (als Institution) eine legitime «Vertretung» Gottes ist. Das ist eigentlich erstaunlich. Die breite Öffentlichkeit vertraut doch heutzutage mehrheitlich wissenschaftlichen Methoden, wenn es um die Beurteilung von Sachverhalten oder Theorien geht. Auch ich glaube an die Existenz Gottes, obwohl ich normalerweise nichts glaube, was nicht ohne Zweifel intersubjektiv nachvollziehbar ist. Für die Existenz Gottes gibt es jedenfalls keine wissenschaftlichen Beweise. Eine Erklärung scheint einfach: Gott steht ja per definitionem über allem Natürlichen, d.h. auch über allem Menschengemachten, also auch über der Wissenschaft. Gott kann also mithilfe der Wissenschaft nicht erklärt werden. Weder Eltern noch Lehrer noch der Staat haben jemals explizit Zweifel an der Existenz Gottes geäussert – soll dann ein junger Erwachsener plötzlich zu zweifeln beginnen? Trotzdem, Weihnachten und Ostern sind ja Feste des Glaubens und da wurden wir jahrelang von genau denselben Leuten belogen – bis wir enttäuscht feststellen mussten, dass weder der Weihnachtsmann noch der Osterhase wirklich existiert. Trotz allem, ich glaube an Gott.

Braucht es die heutige Kirche?

Die hierarchische Struktur der Kirchenorganisation kann vereinfacht mit der eines Unternehmens verglichen werden. Vom Präsidenten (Papst) über das obere Kader (Kardinäle) und das mittlere Kader (Bischöfe) bis hin zu den volksnahen Vertretern (Priester) erfolgt eine Arbeitsteilung, um die «Kunden» bestmöglich betreuen zu können. Es stellt sich heute aber die Frage, ob die Kirche in ihrer heutigen Struktur eher ein wertschöpfendes, fortschrittliches «Unternehmen» oder ein wertverzehrendes, stagnierendes «Unternehmen» darstellt. Der Dogmatismus der katholischen Kirche verhindert jegliche Anpassungen an eine sich stetig verändernde Welt und damit sich ständig verändernde Probleme. Diese Haltung basiert auf dem fatalen Irrtum, dass Gott alles perfekt erschaffen und bis ins letzte Detail vorausgeplant hat und dass der Mensch sich auf keinen Fall in Gottes «Geschäfte» einmischen darf. Diese Annahme halte ich für falsch. Mein Gott ist ein anderer. Ich stelle ihn mir als praktisch denkenden, situativ zum Wohle aller Menschen handelnden Gott vor. So stelle ich mir zum Beispiel vor, dass Gott nur deshalb keine Verhütungsmittel erschaffen hat, weil damals das Problem der Überbevölkerung nicht akut war und weil er eher mit dem Gegenteil, nämlich mit der Erschaffung des Lebens, beschäftigt war. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass Gott das «natürliche» Elend der Überbevölkerung einer menschlichen Einflussnahme vorziehen würde. Bis heute kann ich mich an eine Erzählung in einem Religionsbuch erinnern, die mich als Schulkind stark beeindruckt hat und die mir immer wieder in den Sinn kommt:
Zwei Bauern bleiben je mit ihren Kutschen im Schlamm stecken. Der eine kniet nieder und beginnt zu beten. Er bittet Gott, seinen Wagen aus dem Schlamm zu ziehen. Der andere Bauer tritt fluchend gegen den Wagen und zieht mit aller Kraft daran, bis er schliesslich – immer noch fluchend – den Wagen aus dem Schlamm befreien kann. Der andere Bauer betet immer noch, doch sein Wagen bewegt sich immer noch nicht, er bleibt an Ort und Stelle.

Ich habe diese Erzählung immer als Aufforderung verstanden, situativ und pragmatisch selbst etwas zu unternehmen, um die Situation zu verbessern. Die katholische Kirche scheint sich im Gegensatz dazu jedoch eher an «Gesetzen für die Ewigkeit» zu orientieren.
Ein anderes Beispiel ist die Gleichstellungsfrage. Obwohl in christlichen Ländern heutzutage in allen Bereichen des öffentlichen Lebens die Frauen den Männern rechtlich gleichgestellt sind, ist Frauen nach wie vor die Ausübung der höchsten Kirchenämter vorenthalten. Erstaunlicherweise ist die Empörung in der Öffentlichkeit relativ gering – man wurde eben seit jeher dazu erzogen, die Kirche nie in Frage zu stellen oder zu kritisieren, denn dies käme einer Gotteslästerung und damit einer Sünde gleich. Problematisch ist diese Denkweise, da sie Angst und Schuldgefühle verbreitet und damit Kritik und somit auch Fortschritt verhindert. Ein Teufelskreis also. Und wahrscheinlich auch ein Grund für den Besucherschwund der letzten Jahre in den Kirchen.

Im Weiteren ebenfalls fraglich ist der Sinn des Zölibats. Ich vermute, dass die sexuellen Missbrauchsfälle sowie der akute Priestermangel in der katholischen Kirche durch eine Änderung dieser Kirchenpolitik reduziert bzw. entschärft werden könnten.
Letztlich bin ich auch skeptisch gegenüber der Institution der Klöster. Wodurch unterscheidet sich denn die Kirche von einer (aus katholischer Sicht) so genannten «Sekte», wenn im Kloster ebenfalls sektentypische Regeln gelten, z. B. der Kontakt zur Aussenwelt eingeschränkt ist und individuelle Güter eingezogen werden?

Neben der fehlenden Pragmatik der heutigen kirchlichen Tätigkeit muss aber auch die «Personalpolitik» in Frage gestellt werden. Priester sind – nüchtern betrachtet – keine von Gott auserwählten «übermenschlichen» Geschöpfe, sondern Menschen, die eine bestimmte Studien- und Karrierewahl getroffen haben. Das sind Leute wie du und ich. Missbrauchsskandale, Vertuschungsversuche oder Streitigkeiten innerhalb der Kirche zeigen regelmässig, dass Geistliche nicht «heiliger» sind als andere. Zudem verhalten sich viele Geistliche widersprüchlich. Mich hat es betroffen gemacht, im Jahre 2005 die TV-Bilder der Kardinäle zu sehen, die alle in schwarzen Limousinen zum Konklave gefahren wurden, obwohl die Kirche ein luxuriöses Leben verurteilt und Bescheidenheit predigt. Solche Inkonsistenzen sowie unglückliche Regelungen der katholischen Kirche führen immer mehr zur Entfremdung auf der untersten Ebene. Heutzutage werden – wahrscheinlich auch aufgrund des Priestermangels – in vielen Schweizer Gemeinden so genannte «GemeindeleiterInnen» eingesetzt, die bei den Kirchenbesuchern grosse Sympathie geniessen. Im Gegensatz zu Priestern haben solche GemeindeleiterInnen kein Zölibatsversprechen abgegeben und haben oft eine Familie. Sie kennen daher die Probleme der Familien noch besser und sind in der Gemeinschaft stark verankert. An wichtigen Kirchenfesten wie Ostern oder Weihnachten wird diesen GemeindeleiterInnen jedoch ein Priester vorgesetzt, da sie die Festmesse nicht selber leiten dürfen. Für die Mehrheit der Kirchenbesucher wird der auswärtige «Gastpriester» als «Fremder» empfunden und das Verhalten der Kirche als elitär und hierarchisch. Zudem muss man sich fragen, ob man es unterstützt, dass solche unerwünschten Doppelspurigkeiten mit Kirchensteuern finanziert werden. Es darf nicht erstaunen, wenn sich manch einer fragt, ob wir die Kirche in dieser Form überhaupt noch brauchen. Wir können ja auch direkt zu Gott beten und ein gutes Leben führen. Kann die Kirche überhaupt noch Orientierung geben, wenn sie sich so weit von der Realität und von unseren Lebenssituationen und unseren Sorgen entfernt hat? Sollen wir zum Beispiel weiter leiden und auf die vielleicht ersehnte Sterbehilfe verzichten, nur weil der Papst es will? Und es gibt ja keine Beweise, dass Gott selbst so stur denken würde. Sollen wir weiter unglücklich zusammenleben, nur weil uns bei einer Scheidung der faktische Ausschluss aus der Kirchengemeinschaft droht? Oder sollen wir doch einfach so leben, dass wir und unsere Mitmenschen glücklich sind? Es stellt sich die Frage, was die Kirche für uns eigentlich tut. Regeln aufstellen, uns einschränken, Fortschritt und Glück verhindern? Für Verbesserung beten statt selbst Hand anzulegen und zu verbessern? Auswendig gelernte Sprüche rezitieren statt situativ und pragmatisch die richtigen Worte finden? Hier kommt mir wieder die Erzählung der beiden Kutschenfahrer in den Sinn. Und die spricht gegen die kirchliche Handlungsweise. Würde man nicht besser zuhause beten und das Geld für die Kircheninfrastruktur und -löhne direkt an Bedürftige weitergeben? Vielleicht ist mein Denken frech. Vielleicht aber auch einfach pragmatisch und gesund kritisch.

Was für eine Kirche brauchen wir?

Es geht auch anders. Ein Blick nach den USA zeigt, dass es dort extrem populäre Institutionen – die sich «Kirchen» nennen – gibt, die einen ungebrochenen Zulauf haben. Jedoch würden die meisten Europäer diese nicht als «Kirchen» bezeichnen. Nehmen wir das Beispiel von Joel Osteens Kirche in Houston, Texas. Das Gebäude ist topmodern. Der Messesaal gleicht einer Konzerthalle. Verschiedene Schaltpulte, Lichtanlagen und grosse Lautsprecherboxen erinnern eher an den Besuch eines Popkonzerts. Der Saal gleicht einem Stadion. Die Sitzreihen sind in einem Oval angeordnet, die Reihen sind nach hinten stets erhöht. Das Gebäude ist denn auch in der Tat ein umgebautes Sportstadion mit 16’000 Plätzen. Die Renovierung soll 95 Millionen Dollar gekostet haben. Joel Osteen ist eher ein Popstar als ein Priester. Im Business-Anzug und in Begleitung seiner hübschen Frau – Blondine, geschminkt – betritt er dynamisch und mit einem Mikrofon in der Hand die Bühne. Seine Predigt ist modern, er verknüpft aktuelle Themen mit der Botschaft Gottes, «so wie Gott sie heute erzählen und leben würde». Der hohe Ölpreis und die Präsidentschaftswahl dürfen natürlich nicht unerwähnt bleiben. Denn das ist, was die Leute gerade bewegt. Zwischendurch dröhnt laute Musik aus den Lautsprecherboxen, die Leute singen und klatschen. Ein riesiges Volksfest. Die Halle ist voll. Nach der Messe kann man im Kirchenshop jegliche Souvenirs kaufen. Bücher von Joel Osteen, DVDs, Schmuck etc. Die Kassen klingeln unablässig, hunderte von Artikeln gehen innert weniger Minuten über die Ladentheke. Die Kirche ohne denominationelle Zugehörigkeit erreicht wöchentlich 40’000 Gottesdienstbesucher. Die Kirche hat auch ein eigenes Fernsehprogramm, für das sie jährlich etwa 30 Millionen Dollar ausgibt.
Für mich ist das aber auch keine Kirche. Zu viel Populismus, zuwenig Abgrenzung zu Popkonzert und Supermarkt. Aber in einem Punkt stimme ich Joel Osteen zu: Gottes Botschaft muss nicht zwingend konservativ und altmodisch vermittelt werden. Doch sollte sie meiner Meinung nach eben doch auch nicht zu stark kommerzialisiert werden. Modern muss nicht kommerziell sein. Joel Osteen will die Leute unterhalten und glücklich machen. Er glaubt, Gott wolle es so. Ich jedenfalls glaube nicht, dass die Kirchenshows die Probleme der Menschen lösen können. Vielmehr wird davon abgelenkt. Und wahrscheinlich will Joel Osteen damit auch reich werden (doch das sagt er natürlich nicht). Anscheinend funktioniert es. Bei der genannten populären amerikanischen Kirche ist es wenigstens einigermassen offensichtlich. Weniger so bei der katholischen Kirche. Doch die internen Streitigkeiten innerhalb der katholischen Kirche – z. B. der Fall Sabo in der Schweiz – sowie die Personalpolitik der Kirche im Allgemeinen lassen doch auch vermuten, dass Status, Karriere und Macht eine nicht zu unterschätzende Rolle innerhalb der Kirche spielen. Mit dem Dogmatismus versucht man vielleicht auch, den Status quo der Hierarchiestrukturen zu erhalten. Schlussendlich unterscheidet sich auch die traditionelle Kirche wahrscheinlich nicht stark von einem normalen Unternehmen. Mangelnde Innovation, aufkommende Konkurrenz sowie zunehmende Selbstversorgung könnten jedoch unter Umständen in naher Zukunft das Ende der traditionellen Kirche einläuten.
Ich kann nur für mich sprechen. Meine Kirche müsste eine sein, wo auch Väter und Mütter einer Kirche vorstehen könnten. Sie würden (somit) volksnah sein und die heutigen Probleme der Mitglieder der Kirchengemeinschaft verstehen. Meine Kirche würde sich mit modernen Methoden pragmatisch für die Lösung aktueller regionaler und globaler Probleme und damit für das Wohlergehen der Menschen einsetzen.

Gibt es Gott wirklich?

Eine Gruppe von wissenschaftsgläubigen, religionskritischen Leuten stellt immer wieder dieselbe Frage: Wenn Gott kranke Menschen heilen kann (wie in der Bibel geschrieben), warum hilft er dann Menschen mit amputierten Gliedern nicht? Und sie fragen weiter, warum unsere westliche Gesellschaft – die die Wissenschaft in praktisch allen Bereichen als unbestreitbar ansieht – es zulässt, dass sich Glaubensfragen über die Wissenschaft stellen und nicht der Erfordernis der Falsifizierbarkeit unterliegen. Damit stellen sie unmissverständlich die Existenz Gottes in Frage. Tatsächlich, wenn ich mir das so überlege, dann kann ich für beide Fragen keine Erklärung finden. Schockiert muss ich sogar feststellen, dass ich plötzlich Zweifel habe, ob es Gott wirklich gibt. Würde er denn Amputierte weniger mögen und im Stich lassen? Ich spinne meine Gedanken weiter. Warum würde er Tötungen aus religiösen Motiven zulassen? Fragen über Fragen. Keine Antworten. Ist die Bibel vielleicht einfach ein Bestseller von genialen Ghostwritern? Vielleicht glaube ich gar nicht so richtig, dass es Gott gibt, doch es ist vielmehr ein Hoffen, dass es ihn gibt.

Wäre es denn schlimm, wenn es ihn gar nicht gäbe? Also wenn er sozusagen mit dem Osterhasen und dem Weihnachtsmann in einem Boot sitzen würde? Wenn er nur ein gedankliches Konstrukt wäre? Ein pragmatischer und mit gesundem Menschenverstand gelebter Glaube kann sicherlich konstruktiv sein. Ein solcher Glaube kann Vertrauen, Orientierung und ein Gefühl der Sicherheit geben. Ein dogmatischer Glaube jedoch nimmt den Menschen die Freiheit, fördert Angst und Schuldgefühle und hemmt den Fortschritt. Er führt zu (illegitimen) unerwünschten kontraproduktiven Machtstrukturen. Im Extremfall artet ein streng dogmatisch ausgelegter Glaube aus und führt zu Intoleranz und Gewalt, wie verschiedene Glaubenskriege immer wieder beweisen. Allein schon der gesunde Menschenverstand verbietet, zum Schutze eines Gebotes ein anderes zu verletzen. Wer in Gottes Namen tötet, sollte sich zum Beispiel fragen, welche Werte dieser Gott – an den er oder sie glaubt – vertritt, und ob jemand, der solche Werte vertritt, überhaupt ein Gott sein kann beziehungsweise diesen Namen verdient. Oder vielleicht ist dieser jemand doch nur ein gedankliches Konstrukt oder eben ein Hirngespinst.

Ich glaube weiterhin an Gott, an meinen Gott. Glauben ist und bleibt eben etwas Irrationales und vor allem etwas sehr Persönliches. Und das ist auch gut so.


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