Wo die Mikroökonomik aufhört, fängt die Neuroökonomie an – ein junges Forschungsfeld, das mit einem Blick ins Gehirn Verhalten zu erklären versucht.
Entscheidungen ohne Ende: Ob es um Konsumenten, Firmen oder Regierungen geht, die Ökonomie versucht, Entscheidungsverhalten zu modellieren. Jeder sieht sich selbst täglich mit unzähligen Entscheidungen konfrontiert. Auch wenn nicht alle davon lebensverändernd sind, halten sie unser Gehirn auf Trab.
Was genau passiert in unseren Köpfen eigentlich, wenn wir entscheiden? Entsprechen die Prozesse dem, was die Ökonomie behauptet? Um dies zu untersuchen, hat sich in der Forschungslandschaft ein neues Paar vereinigt: Aus der Kombination von Ökonomie und Neurowissenschaft, einem Zweig der Biologie, ist die Disziplin der Neuroökonomie entstanden. prisma hat sich mit Philippe Tobler (Bild unten), Assistenzprofessor für Neuroökonomie und Soziale Neurowissenschaft, unterhalten. Er forscht an der Universität Zürich, die sich in diesem noch jungen Forschungsfeld einen Namen gemacht hat.

Die Neuroökonomie ist im letzten Jahrzehnt aufgekommen. Sie untersucht, was im Gehirn abläuft, wenn man entscheidet. Konkret geht es um Entscheidungen, welche sich an Werten orientieren. Neuroökonomen verbinden die Ökonomie mit Neurowissenschaften, Psychologie und Informatik. Die Methoden sind vielfältig: Wir wenden etwa bildgebende Verfahren an, die zeigen, welche Hirnbereiche in bestimmten Situationen besonders aktiv sind. Wir können auch analysieren, wie Probanden reagieren, wenn bestimmte Hirnbereiche stimuliert werden oder wie sich Patienten verhalten, bei denen Hirnstrukturen geschädigt sind. Unsere Hypothesen und Erkenntnisse fassen wir in formale ökonomische beziehungsweise psychologische Modelle.
In welchem Zusammenhang steht die Neuroökonomie zu anderen Gebieten der Ökonomie?Sie steht nahe bei der Mikro- und der Verhaltensökonomie. Unterdessen gibt es auch Ansätze zu makroökonomischen Themen. Eine wichtige Unterscheidung zur Verhaltensökonomie ist jedoch, dass die Neuroökonomie auf tatsächliche biologische Prozesse fokussiert. Es geht nicht darum, ob ein Modellparameter maximiert wird, sondern um die Aktivität in einem bestimmten Hirnbereich. Für meine Arbeit von grossem Interesse sind unter anderem Zellen, die Dopamin ausschütten, oder der ventromediale Präfrontalkortex, der unten im Gehirn, hinter den Augen liegt. Diese Strukturen spielen beispielsweise eine Rolle für unsere Motivation.
In der Praxis profitiert momentan vorwiegend die Medizin. Viele psychische Krankheiten wirken sich auf die Entscheidungsfindung aus, etwa in Form von Zwangsstörungen, Schizophrenie oder Drogensucht. Letzlich sind Entscheidungen aber überall im Alltag präsent.
Obwohl ich mit Psychiatern zusammenarbeite, ist meine Forschung primär Grundlagenforschung. Unsere Vision ist es, Entscheidungsmechanismen auf der Basis neuronaler Grundlagen genau zu verstehen, sodass wir daraus Modelle ableiten können. Diese sollten präzise Vorhersagen erlauben und in der allgemeinen Anwendung nicht mehr davon abhängig sein, dass man den Leuten ins Gehirn schaut – ein verbessertes ökonomisches Standardmodell.
Profitieren Unternehmen auch? In den Medien liest man zum Beispiel immer wieder von Neuromarketing – die Benutzung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse, um den Absatz zu steigern.Neuromarketing ist aus meiner Sicht Zukunftsmusik, wenig ist im Moment wirklich erwiesen. Man muss deshalb aufpassen, keinen falschen Versprechen auf den Leim zu gehen.
Persönlich hatte ich einmal eine Zusammenarbeit mit der Industrie. Es ging darum, wie man Botschaften bezüglich Umwelterhaltung effektiv übermittelt. Oft weiss man ja, was eigentlich langfristig gut wäre. Die Frage ist dann, wie die verschiedenen Motive abgewogen werden und wie man die langfristigen gegenüber den kurzfristigen stärken kann. In unserem Fall haben wir geschaut, wie stark unterschiedliche Präsentationsarten diese verschiedenen Motive und die entsprechenden Hirnbereiche aktiviert haben.
Könnten Unternehmen Hirnbereiche von Mitarbeitern oder Kunden auch direkt stimulieren, vielleicht ohne deren Wissen? Müssen wir bald damit rechnen, beim Anlageberater vertrauenseinflössende Hormone einzuatmen?Das wäre originell – aber nein, da müssen Sie sich vorerst keine Sorgen machen. Um eine wirksame Dosis abzukriegen, müsste man Ihnen schon einen kräftigen Stoss Nasenspray verabreichen, das würden Sie merken. In der Therapie ist das anders, ein Patient will ja einen Wirkstoff einnehmen, weil er sich Linderung verspricht. Was andere Methoden betrifft: Im Labor kann man zwar durch kontrollierte Stimulation Verhaltensänderungen verursachen. Ein Beispiel: Leute, die entsprechend stimuliert wurden, fuhren im Fahrsimulator mit weniger Risiko, sie fuhren weniger nahe auf oder hielten bei Orange noch an. Dafür ist aber einiges an Gerätschaft erforderlich! Im Alltag könnte man so etwas auch nicht machen, ohne dass Sie etwas bemerken würden. Was Firmen heute schon umsetzen, auf Verhaltensebene, ist viel subtiler, zum Beispiel wo die Produkte im Regal stehen.
Zum Stichwort Risiko: Sie haben viel dazu geforscht. Manche Hirnregionen beeinflussen die Risikofreudigkeit. Ist Risikofreudigkeit angeboren wie die Haarfarbe?Eine gewisse Veranlagung ist genetisch vorgegeben, aber man passt sich auch situativ an. Im Allgemeinen sind die Leute risikoavers. Wenn man jedoch nur überleben kann, indem man sich risikofreudig verhält, wird man das tun, wie etwa Auswanderer, die vor einer Hungersnot fliehen. Zudem ist Risikobereitschaft nicht unbedingt eine bereichsübergreifende Eigenschaft. Sie könnten zum Beispiel gleichzeitig ein Finanzspekulant sein und sich beim Sport wenig trauen.
Ist generelle Risikoaversion eine menschliche Eigenschaft? Sind wir da Sonderfälle der Natur?Überhaupt nicht! Risikoaversion wurde sogar bei Bienen und Hummeln festgestellt. Man kann auch Risikoprämien für verschiedene Arten bestimmen. Der Vergleich des Nutzens von Belohnung zwischen den Arten ist aber schwierig, ein bisschen Fruchtsaft mag nicht für alle Arten die gleiche Bedeutung haben.
Jede Art profitiert natürlich auch von ein paar Risikofreudigen – von denjenigen, die eine neue Speise als erste probieren, ein Unternehmen gründen oder zum Mond fliegen.
Dein Gehirn als Forschungsobjekt? Hier kannst du dich anmelden, wenn du selbst an einer neuroökonomischen Studie teilnehmen möchtest.
Fotos: Livia Eichenberger/Philine Widmer