prisma hat den Strafrechts- und Kriminologieprofessor Martin Killias an seinem Institut in Zürich besucht und mit ihm über seinen Werdegang, Crime Surveys und seine Sicht auf die Schweiz gesprochen.
Als Sohn eines Ökonomen aus bürgerlichem Haus ist der Weg hin zu einem politisch linksorientierten Strafrechts- und Kriminologieprofessor wohl nicht gradlinig, sondern verschlungen. Während seiner gesamten Gymnasialzeit schlug das Herz von Martin Killias speziell für Geschichte, seinem – bis zur Matura – erklärten Studiumswunsch. Doch mit der Aussicht, als Gymnasiallehrer zu enden und dem Wunsch, etwas in der Schweiz verändern zu wollen und somit selber die Geschichte zu beeinflussen, entschied er sich nach der Matura für die Rechtswissenschaften. «Ich habe immer gesagt, dann werde ich halt Rechtsanwalt oder Nationalrat, das ist leider beides ‹abverreckt›», lacht er. Zum Glück, möchte man fast sagen, hat er doch während seiner Lehr- und Forschungstätigkeit eine beeindruckende Menge an Datenbanken – sowohl national wie auch international – geschaffen. Doch der Reihe nach: Nach seinem Jus-Studium legte er die Anwaltspatentprüfung im Kanton Zürich ab und hängte danach noch einmal vier Jahre Studium mit dem Schwerpunkt Soziologie an. Heute würde man dies sicher mit einem Master effizienter erledigen können, meint er, aber damals war dies halt der Lauf der Dinge. Ein Stipendium führte ihn danach für zwei Jahre in die USA, an die State University of New York in Albany. «Natürlich ist die Uni nicht vergleichbar mit den bekannten Namen wie Harvard oder Yale. Trotzdem war Albany damals das Kriminologiemekka, da staatliche Institutionen logischerweise staatliche Unis und nicht private förderten.»
Mit Schulfranzösisch an die Uni Lausanne
Fast wäre er in den Staaten geblieben, hätte ihn nicht eine Stellenausschreibung in der Juristenzeitung 1982 wieder zurück in die Schweiz geführt. An der Universität Lausanne wurde ein Dozent gesucht, übers Wochenende verfasste er mit Schulfranzösisch seine Bewerbung und drückte den Brief, vor den Zeiten von E-Mail, Fax und Scanner, der Stewardess am Flughafen direkt in die Hand, damit die Bewerbung noch rechtzeitig in der Schweiz eintraf. Schliesslich wurde er zu einem Gastvortrag eingeladen und angestellt. Zurück in der Schweiz waren seine Prioritäten klar: «Was ich in den USA gesehen hatte, wollte ich auch in der Schweiz anwenden.» Zum einen hiess dies, Crime Surveys hierzulande einzuführen, weiter einen Selfreport-Survey für Jugendliche zu entwickeln und eine europäische Kriminalstatistik zu erstellen. «Wenn es die 50 Staaten der USA mit ihren unterschiedlichen Strafgesetzen schaffen, eine nationale Statistik über Verbrechen zu erstellen, warum sollte dies in Europa nicht möglich sein?», meint Killias, der fast 20 Jahre der zuständigen Kommission vorstand. Doch nicht nur eine übersichtliche Kriminalstatistik, sondern auch eine europäische Vereinigung mit jährlichen Kongressen wurde durch ihn ins Leben gerufen, deren erste Tagung, wie könnte es anders sein, in Lausanne stattfand.
Oben wird mehr betrogen
Und wer sich für Tötungen, seien es Mord oder Suizide, in der Schweiz seit 1980 interessiert, kann diese Informationen ohne Probleme dank einer von Killias initiierten Datenbank abrufen. «Das Problem ist leider, dass Soziologen, und ich gehöre ja dazu, deshalb darf ich das sagen, ein einfaches Weltbild haben. Sie nehmen Tötungen als einen Indikator für die Gewaltbereitschaft in einer Gesellschaft. Dies ist sicherlich nicht falsch, aber bei einer solch heterogenen Masse wie Tötungsdelikten und der geringen Anzahl von 50 bis 100 pro Jahr in der Schweiz ist ein solcher Rückschluss schwierig. Mit der Datenbank gelingt es, diese heterogene Masse aufzuspalten und mit insgesamt um die 1’500 Fälle lassen eine repräsentative Anzahl zu liefern.»
Nicht nur in der Schweiz und Europa schätzt man seine Arbeit, hat er doch 2009 eine Studie für die USA zum Thema Jugendkriminalität geleitet. «Damals ging es darum, das gesamte Know-how, das dazu in Europa vorliegt, aufzuarbeiten und übersichtlich darzulegen. Bei dieser Gelegenheit kamen auch die European Crime Surveys wieder zum Einsatz.»
Doch auch Wirtschaftskriminalität, für uns HSGler sicherlich von besonderem Interesse, ist eines seiner Forschungsgebiete. So konnte man beispielsweise mit einer Business Crime Survey nachweisen, dass die hohen Tiere prozentual gesehen mehr betrügen und krumme Dinger drehen, als die unteren Etagen. Natürlich hängt dies auch mit der Anzahl der Gelegenheiten zusammen, sollte aber trotz all der Diskussionen über nachhaltiges und ehrliches Management zum Nachdenken anregen.
Fachgebiet und Linientreue
Als SP-Politiker wird Killias immer wieder vorgehalten, für die Linke doch zu «mittig» orientiert zu sein, wenn es um Themen wie Sicherheit, Strafzumessung und Ähnliches geht. Das kann Killias nur mit einem Schulterzucken quittieren: «Ich hab immer etwas ironisch gesagt, dass ich nirgends so linientreu bin, wie bei Themen, über die ich wenig weiss. Denn, je grösser das Fachwissen, desto schwieriger sind klare Positionsbezüge und einfache Lösungsrezepte.» Hinzu komme, dass Sicherheit früher ein Tabuthema gewesen sei, sich dies nun aber glücklicherweise geändert habe. Jede Partei braucht seiner Meinung nach Experten für die wichtigen Themen, die das grosse Ganze sehen, denn nur so kann das System funktionieren. Und auch wenn er vielleicht beim Thema Sicherheit nicht ganz auf der klassischen SP-Schiene fährt, so erkennt er sich doch bei anderen Themen, wie zum Beispiel bei der Raumplanung oder beim sozialen Ausgleich klar in der Partei wieder. Obwohl er ein 68er ist, sei er nie extrem gewesen. Es gebe praktisch keine Texte, die er damals geschrieben hat, hinter denen er heute nicht mehr stehen könne – «das heisst wohl auch, dass ich mich nicht weiterentwickelt habe», meint er lachend.
Sicht auf die Schweiz
Die zwei Jahre in den USA haben ihn nicht nur fachlich geprägt, sondern auch seine Sicht auf die Schweiz verändert. Seither zog es ihn immer wieder in andere Länder, für Gastprofessuren von bis zu einem Jahr. Zunächst nach Kanada, dann erneut in die USA, nach England, Italien und vor allem immer wieder nach Holland. Immer sind dabei seine drei Kinder mitgekommen und haben in vier Ländern die öffentliche Schule besucht – und dabei drei Sprachen gelernt. In seinen Augen sind viele Schweizkritiker nie über die Grenzen hinaus gekommen und hätten ihr Heimatland nie von aussen betrachtet. Wenn man es aber mal von aussen betrachtet, erscheint die Schweiz zumindest ihm nicht in einem schlechteren Licht – da sei er doch so etwas wie ein Patriot. Die Schweiz sei bei vielem auch viel zu selbstkritisch, wenn man sie zum Beispiel mit den Staaten vergleicht. So gibt es in der Schweiz, wie in den meisten andern europäischen Staaten die Möglichkeit, Staatsanwälte zu belangen, sollten sie Beweise und Untersuchungen verfälschen; in den Staaten ist dies nicht möglich, die Vorstellung – to prosecute the prosecutor – sei «drüben» völlig unvorstellbar.
Nachdem er während 25 Jahren in Lausanne dozierte und forschte, wechselte er 2006 wieder zurück an seine «Heimatuni» Zürich und unterrichtet dort seither Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie. «Viele meiner Kollegen unterrichten lieber Studierende auf Masterstufe, aber ich mag die Bachelorstufe. Es ist interessant, 19-Jährigen etwas aus der aktuellen Forschung aufzuzeigen und ihnen damit anhand aktueller Forschung beizubringen, dass es ungelöste und vielleicht auch unlösbare Fragen gibt.»