Gemeinsam Grosses schaffen

Vielleicht berücksichtigt der eine oder andere von euch bei der Planung des nächsten Wochenendes, neben Kino und Trischli, auch mal das Sinfonieorchester St. Gallen, denn es ist in jedem Fall einen Besuch wert.

Wer die Augen schliesst und einfach nur lauscht, der wird von der Musik umfangen. Sie kommt gefühlt aus allen Richtungen – noch besser als Dolby Surround – und zieht einen derart in den Bann, dass für einen Moment alles andere vergessen ist. Nur ich und die Musik. Dennoch öffne ich die Augen wieder, denn zu sehen, wie all diese vielen Musiker auf der Bühne zusammenspielen und gemeinsam etwas erschaffen, empfinde ich als äusserst faszinierend – das Orchester als lebender Organismus, als intelligenter Schwarm.
«Der Dirigent spielt auf dem Instrument Orchester», erklärt mir Konzertdirektor Florian Scheiber vor der Probe, und jetzt verstehe ich, wie gut dieses Bild passt. Der Dirigent Otto Tausk bringt das Orchester mit seinen kurzen und knappen Anweisungen zum Klingen und es sieht aus, als wäre es nicht schwieriger, als auf einem Klavier die Tasten zu drücken. An diesem Montagabend probt das Sinfonieorchester St. Gallen die Oper «Annas Maske». Es handelt sich um eine Uraufführung und gleichzeitig das erste Auftragswerk von Orchester und Theater an den St. Galler Komponisten David Philip Hefti. «Annas Maske» ist eine moderne Oper, die trotz ihrer Atonalität nicht schräg klingt.

Kombination aus Konzerten und Musiktheater

Seit der Gründung des Orchesters durch die St. Galler Bürgerschaft 1877, beschäftigt es sich mit beidem: den grossen Konzerten auf der Bühne der Tonhalle und dem Musiktheater – Opern, Operetten, Musicals und Tanztheater – in Kooperation mit dem Theater St. Gallen. Konzertdirektor Scheiber erklärt, für wie wichtig er diese Zweigleisigkeit hält, denn: «Sie hält das Orchester wach.» Beim Musiktheater stehen die Akteure auf der Bühne im Fokus, während das Orchester im Graben sitzt und nur durch seine Musik mit dem Publikum in Kontakt tritt.
Dadurch sind die Musiker gezwungen stets genau zuzuhören, um sich dem jeweiligen Sänger anzupassen. Scheiber hält dies für eine befruchtende Erfahrung auch für die Sinfoniekonzerte des Orchesters, da die Musiker lernen, sich gegenseitig zuzuhören und sich nicht nur vom Dirigenten anleiten zu lassen. Der Jugendstilbau selbst wurde 1909 als Konzerthaus für das Sinfonieorchester erbaut und ist seitdem dessen Heimstätte. Das Gebäude sieht nicht nur von innen und aussen fantastisch aus, sondern hat laut Scheiber auch eine ausgezeichnete Akustik.
Und selbst wer sich für das Orchester nicht begeistern kann, sollte diesen wunderschönen Saal mal bei einer der zahlreichen Veranstaltungen wie Kabarett oder dem Auftritt des HSG-Orchesters bestaunen. Für den Erfolg des Orchesters St. Gallen ist die Tonhalle ganz entscheidend, davon ist Florian Scheiber überzeugt. Er betont: «Musik braucht zum Leben, zum Atmen, eine wirklich gute Akustik.» Er ist daher sehr glücklich über die Möglichkeiten der Tonhalle in St. Gallen.

Vorspiel hinterm Vorhang

Als Konzertdirektor besteht Florian Scheibers Arbeitsalltag hauptsächlich aus Management, jedoch hat seine ganze Arbeit mit Kunst zu tun, schliesslich ermöglicht und organisiert er diese. In dieser Funktion ist er auch der Vorgesetzte des gesamten Orchesters und leitet ein internationales Team mit Musikern aus 23 verschiedenen Ländern.
Doch wie läuft das Auswahlverfahren für einen Posten im Orchester ab? Ich lerne bei unserem Gespräch, dass dieses mehr mit den Castings bei «The Voice», als mit klassischen Vorstellungsgesprächen zu tun hat. Auf die Annoncen in den Fachmedien kommen die schriftlichen Bewerbungen nach St. Gallen, woraufhin eine Vorauswahl getroffen und circa 30 Personen zum Probespiel eingeladen werden. Dieses gliedert sich in verschiedene Runden, wobei alle Bewerber jeweils das gleiche Stück spielen und nach und nach ausgesiebt werden. Um wirklich nur die musikalischen Fähigkeiten zu bewerten gibt es in der ersten Runde sogar einen Vorhang hinter dem die Musiker versteckt ihr Können beweisen dürfen.
Eine acht- bis zwölfköpfige Kommission entscheidet, wobei dieser Entscheid zwangsläufig immer subjektiv gefällt wird. So könne es durchaus sein, an einem Tag in St. Gallen abgelehnt zu werden und am nächsten Tag von einem anderen Orchester umjubelt eingestellt zu werden, denn es kommt neben den reinen Fähigkeiten immer auch darauf an, wie gut jemand zum Stil des bestehenden Orchesters passt. Durch diese Praxis vererbt ein Orchester seine Klangtradition und entwickelt einen gewissen Eigenklang. Doch was ist mit all den Soft Skills? Tatsächlich stehen menschliche und soziale Faktoren bei der Bewerbung nicht im Fokus, da es keine Gespräche, sondern nur Vorspiele gibt. Allerdings existiert eine Probezeit von einem Jahr.

Das «totgesagte Tierchen» Abonnement

Um all diese Musiker zu bezahlen und natürlich alle anderen Kosten zu decken wird das Orchester von Stadt und Kanton St. Gallen hochsubventioniert. Da stellt sich natürlich die Frage nach dem öffentlichen Auftrag des Orchesters. Florian Scheiber erklärt, dieser bestehe darin, ein Konzertleben auf sehr hohem Niveau anzubieten, das die grossen Klassiker als «Grundversorgung» anbietet und trotzdem innovativ bleibt. Er betont, wie schwierig es mitunter sein kann, diese Balance zwischen hohen Zuschauerzahlen und einem möglichst experimentellen Programm zu finden und erläutert, dass am Ende der Saison ebendiese Mischung stimmen und damit der durchschnittliche Auslastungsgrad einen bestimmten Zielwert erreichen muss.
Wichtig für die Planung der Auslastung ist das Abonnement, das allerdings derzeit bei allen Orchestern weltweit einen wunden Punkt darstellt. Das System Abo, welches beinhaltet, dass man sich für acht bis zehn Abende im Jahr bindet, ist für unsere spontane Generation wohl einfach nicht mehr zeitgemäss. Trotzdem bemüht sich das Orchester, die aussterbende Gattung des Abonnements noch möglichst lange am Leben zu erhalten, da es für die Planungssicherheit eine wichtige Rolle spielt. Trotz des Rückgangs der Abonnenten kann sich das Orchester aber über steigende Zuschauerzahlen freuen.

Schulhaus- und Kinderkonzerte für die Jugend

Verbunden mit dem öffentlichen Leistungsauftrag und auch den künftigen Zuschauerzahlen nehmen die Initiativen zur Jugendarbeit mittlerweile einen hohen Stellenwert beim Sinfonieorchester St. Gallen ein. Einerseits finden Schulhauskonzerte statt, bei denen kleine Gruppen von Musikern Klassen besuchen und dort Musik erklären und erfahrbar machen.
Andererseits bietet das Orchester auch sogenannte Kinder- und Jugendkonzerte an, bei denen die Musik den Kindern und Jugendlichen durch Moderation und Interaktion nähergebracht werden soll. Hier besteht zum Beispiel eine Kooperation mit der musikalischen Grundschule, sodass alle zweiten Klassen der Stadt St. Gallen sich ein Jahr lang auf ein bestimmtes Projekt vorbereiten, welches dann in einem interaktiven Konzert in der Tonhalle gipfelt, bei dem zum Beispiel Tänze zu bestimmten Stücken einstudiert wurden. Auch für HSG-Studenten, welche Musik  geniessen wollen, dürfte sich ein Besuch lohnen.


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