“Occupy – Was?”

New York, Washington, London, Berlin und Rom. Seit letzten Samstag 12.00 Uhr Ortszeit kann sich auch St. Gallen zu dieser klangvollen Runde hinzuzählen. All diese Städte verbindet eine Gemeinsamkeit: sie wurden besetzt. Besetzt von der “Occupy”-Bewegung, die sich rasant über den ganzen Globus verbreitet. Das hängt vor allem mit ihren Zielen zusammen. Nach eigenen Angaben auf der Homepage der “Mutterbewegung” aus den USA, wenden sich die Teilnehmer vor allem gegen den Einfluss Multinationaler Konzerne und Grossbanken auf den Staat und die Demokratie als solche. Dabei sehen viele der Teilnehmer auch das komplette Wirtschafts- und Gesellschaftssystem durch die Finanz- und Schuldenkrise hinterfragt.

So auch Frau Guggenheim, die am Samstag ebenfalls am Multertor demonstrierte: “Wir demonstrieren gegen die Art des neoliberalen Handelns und die systematische Bevorzugung einer Oberschicht”. Die pensionierte Dozentin betont dabei besonders die Systemfrage. Es gehe ihr und den anderen Teilnehmern nicht darum, einzelne Personen an den Pranger zu stellen, sondern auf ein ungerechtes System hinzuweisen. Ein System, dass Verantwortung ungleich verteile, und zugleich zu einem rücksichtslosen wirtschaften verleite, so Guggenheim.

Dies würde auch erklären, wieso man den arbeitsfreien Samstag wählte um gegen die Macht der Banken zu demonstrieren. Damit richtete sich die Demonstration aber lediglich gegen ein Gebäude – eine Hülle ohne Inhalt. Zwar ein Symbol der Macht, aber ohne die Menschen die es mit Leben füllen. Ebenso verhält es sich, wenn man gegen “das System” demonstriert. Auch hier wird lediglich eine Hülle bestreikt. Der Einzelne auf dem jedes System begründet ist, entgeht dabei seiner Verantwortung.

Die Finanzkrise nahm ihren Anfang auch nicht im abstrakten System sondern beim durchschnittlichen Bürger, der sein Haus aus reinem Konsumstreben mit immer weiteren Hypotheken belastete. Hinzu kam, dass der Bankangestellte auf der anderen Seite des Bankschalters in dem Masse profitorientiert war, wie seine Kunden konsumorientiert. Diese Konstellation kann man als unglücklich bezeichnen oder vom System verschuldet. Oder aber man spricht einfach von menschlicher Gier.

Mit dieser Erklärung mache man es sich ein bisschen zu einfach, finden die zwei Junggrünen Lea und Seraina, die ebenfalls an der Demonstration teilnehmen. Grundsätzlich trage jeder von uns eine persönliche Mitschuld an der Krise, was aber nicht bedeute, dass man sich entspannt zurücklehnen könne, so die beiden. Vielmehr müsse man nun der persönlichen Verantwortung gerecht werden.

An diesem warmen und nebelfreien Samstagmittag scheint der Aufruf in St. Gallen ungehört in den blauen Winterhimmel zu steigen.

Auch eine Stunde nach Beginn der Besetzung füllt sich der UBS-Vorplatz am Multertor nur spärlich mit Menschen. Viele der vorbeieilenden Passanten geben an sich nicht mit den Hintergründen der Finanzkrise beschäftigt zu haben. Somit sähen sie sich auch nicht in der Lage sich über die Occupy-Bewegung zu äussern. Zumindest haben sie von der Bewegung gehört. Andere wiederum zeigen sich Erstaunt als man sie auf die Demonstration aufmerksam macht. “Occupy – Was?” lautet die Frage der Wurstfachverkäuferin Regina, die in zwei Meter Entfernung zum Lager der Occupy-Aktivisten ihren Wurststand betreibt. In einem einzigen Satz bringt sie auf den Punkt, wieso die Menschen in St. Gallen wegbleiben, wo doch in Zürich ganze Zeltlager entstehen: Die Menschen in der Ostschweiz sind uninteressiert, weil sie nicht betroffen sind. Mit einer der schweizweit niedrigsten Arbeitslosenquoten von 2,9% erscheinen die Auswirkungen der Finanz- und Schuldenkrise verschwindend gering. Bezieht man unter anderem Spanien mit seinen 21% Arbeitslosen in den Vergleich ein, so kann man getrost von paradiesischen Zuständen sprechen.

Unter den circa 40 Teilnehmern, die im Ostschweizer Paradies demonstrieren befinden sich auch einige HSG-Studierende. So wie Lukas, der im dritten Semester International Affairs studiert. “Die Occupy Bewegung St. Gallen existiert erst seit drei Wochen”, erklärt er und liefert damit auch indirekt eine weitere Begründung, wieso sich die Teilnehmerzahl in Grenzen hält. Nichtsdestotrotz wachse der St. Galler Ableger langsam aber sicher. Dabei seien alle Gesellschaftsschichten vertreten, auch ein Ex-Banker nehme regelmässig an den Treffen teil, so Lukas. Es bleibt also abzuwarten, wie sich der St. Galler Ableger in Zukunft entwickeln wird.

Ob die Occupy-Bewegung jedoch zu tiefgreifenden Veränderungen führen wird bleibt zu bezweifeln. Noch profitieren genug Menschen vom jetzigen Wirtschaftssystem. So lange sich dieses Verhältnis nicht umkehrt wird ein Umdenken nur schwerlich stattfinden. Letzten Endes gilt für den Einzelnen und das Wirtschaftssystem, was Dürenmatt für die Schweiz feststellte: “Jeder Gefangene beweist, indem er sein eigener Wärter ist, seine Freiheit.”

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