Auf Facebook zeig ich alles …

Social Media ist die Erweiterung des realen Seins. Man probiert sich aus und testet, wie man auf andere wirkt – und oft weiss man nicht mal, welche Folgen dies haben kann.

Jeder kennt diese Posts auf seinem News Feed. Dinge, die einem nicht nur egal sind, sondern einen in Rage versetzen, weil sie wie eine Vergeudung von Energie und Internetspeicherplatz scheinen. Da stehen 1’000 Zeichen lange Statusmeldungen zum allgemeinen Unbefinden, gespickt mit traurigen Smileys und depressiven Songtextzitaten. Nicht zu vergessen die Posts verliebter Pärchen, die sich ewige Liebe schwören und mit Herzchen die Pinnwand verpesten.

Narzisstisches Sich-im-Kreis-Drehen

Was im realen Leben vielleicht nur eine momentane Gemütsbewegung war und niemanden kümmern würde, wird auf Facebook gross aufgebauscht, gepostet, geshared, geteilt. Ein Seelenstrip wird hingelegt, der in der Realität so gar nicht möglich wäre. Oft steht man sprichwörtlich nackt vor seinen 1’845 Freunden. Doch woher kommt dieser Drang, sich selbst derart in Szene zu setzen? Nach Dr. Johannes Döser ist dieses Bedürfnis, sich selbst und seine Abenteuer darzustellen, ganz natürlich. «Dieser Drang nach Selbstdarstellung ist so alt wie die Menschheit selbst – bereits bei den ersten Höhlenzeichnungen liess sich ein solcher feststellen. Auch die gegenseitigen Liebesbekundungen sind nichts Neues. Schliesslich ritzte man schon in Burgmauern den Namen seiner Liebsten oder sprayte an Autobahnbrücken «Hans und Karla für immer». Kein Wunder also, dass regelmässig Profilbilder, Statusmeldungen und Fotoalben erstellt, geändert und aktualisiert werden. Man schafft sich eine Persona und experimentiert damit, es kann aber auch auf ein «narzisstisches Sich-im-Kreis-Drehen» hinauslaufen, so Allan Guggenbühl. Social Media ist perfekt dazu geeignet, verschiedene «Ichs» auszuprobieren und an den Reaktionen der anderen zu erkennen, ob dieses «Ich» akzeptiert oder missachtet wird.

Dass das «Facebook-Ich» nur eine Maske ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass niemand bei einem Jobinterview oder einem ersten Kennenlernen all die betrunkenen Bilder der letzten Nacht von sich zeigen würde, im besten Fall noch mit lustigen Kommentaren versehen. Wenn schon das ganze Leben gepostet wird, sollten zumindest die Sicherheitseinstellungen stimmen – Freunde von Freunden alles sehen zu lassen, ist, insbesondere wenn man ein breitgefächertes Netzwerk hat, keine gute Idee. Dies sieht auch Guggenbühl so: Viele in unserem Alter gehen zu naiv an das ganze Thema heran und sind zu freizügig mit dem Teilen privater Inhalte. Da Facebook keinen persönlichen Kontakt zu anderen herstellt, wiegt man sich in der Illusion, weniger angreifbar zu sein. Definierte Intimgrenzen werden überschritten – nie würde man nur in Unterwäsche rumlaufen, auf Facebook jedoch darf die ganze Welt den neuen BH begutachten. Allerdings sieht Guggenbühl neben der Möglichkeit, mit seiner Identität zu spielen, auch die Chance, dass besonders introvertierte Menschen leichter in Kontakt mit anderen treten können. Dies kann ihnen helfen, sich als Teil der Gesellschaft zu sehen, wobei dieses Mitteilungsbedürfnis auch schwerwiegende Folgen haben kann. Mobbing und der Verlust von Freunden ist, sofern die angesprochene Peer-Group nicht genauso handelt, nicht auszuschliessen. Gefährlich wird es dann, wenn man anfängt, mit völlig Fremden Kontakt aufzunehmen. Ein solches Verhalten dient meist als Ersatzbefriedigung dafür, dass man im realen Leben nicht fähig ist, neue Beziehungen aufzubauen.

Therapeutische Wirkung

Und was ist mit diesen ganzen depressiven Statusmeldungen, die beschreiben, wie schlecht es einem gerade geht? Guggenbühl sieht darin durchaus eine therapeutische Wirkung, zumindest in dem Sinne, dass «Probleme in einem grösseren Rahmen geteilt und diskutiert werden können». Dieses Teilen von Informationen kann jedoch dann problematisch werden, wenn sich andere Leute dadurch gestört fühlen, wie wir bei einem Selbstversuch erkennen konnten. Nachdem wir, zumindest Joana, das Projekt «Für 24 Stunden poste ich alles nur Erdenkliche auf Facebook» gestartet hatten, liessen die bösen Kommentare nicht lange auf sich warten: «Hör auf zu posten» und «thx 4 sharing» waren nur zwei von vielen doch eher kritischen Bemerkungen, die sich an die belanglosen Statusmeldungen richteten. Aber wer will auch wissen, wann jemand sein Päckchen bei der Post abholt, mit wem er isst und wann er sich schminkt. Auch interessant zu erwähnen war der Verlust von sage und schreibe 10 Freunden (OMG!!) innerhalb eines Tages. Es lässt sich somit nur erahnen, welche weiteren Auswirkungen weiteres wildes Posten von Statusmeldungen auf die Beziehung zu Facebookfreunden gehabt hätte.

Gehört werden

Die Möglichkeit, Facebook dazu zu nutzen, seine Identität zu stärken und sich selbst zu finden, hat somit nur geringen Erfolg. Viel erfolgsversprechender, so Döser, ist «der direkte Austausch mit Freunden» und Verwandten und die Auseinandersetzung mit den damit verbundenen sichtbaren, sofort erfolgenden Reaktionen, die nicht längere Zeit durchdacht werden können und somit unverfälscht sind. Facebook schafft es somit nicht, den Status eines Individuums innerhalb einer Gemeinschaft zu verbessern, obwohl dies fälschlicherweise angenommen wird. Aufgrund dieser Falschannahme greifen trotzdem viele auf Facebook zurück. Sie wollen gehört werden. Sie wollen beeinflussen. Und sie wollen Anerkennung erfahren. Ein anderer einleuchtender Grund, der das rege Treiben auf Facebook erklären könnte, ist die Angst vor dem Alleinsein. «An keinem Menschen geht die kränkende Erfahrung vorbei, nicht überall dabei sein zu können, auch mal ausgeschlossen zu werden», weiss Döser. Somit könnte man das eigene Mitteilungsbedürfnis als einen hilflosen Versuch, nicht in Vergessenheit zu geraten, verstehen. Den tiefgreifenden Effekt des Alleinseins möchte niemand durchleben müssen. Der Mensch als soziales Wesen ist nicht dafür gemacht, allein zu sein. Somit scheint es für viele ganz natürlich, sich ohne Schutzschild, also so gut wie nackt, auf Facebook zu präsentieren. Hauptsache, die Aufmerksamkeit anderer ist gesichert.

Dr. med. Johannes Döser ist Arzt, Psychiater & Psychotherapeut, Kinder- & Jugendpsychiater, Psychosom. Med. & Psychotherapeut, praktiziert in Essen, NRW, Deutschland.
Allan Guggenbühl ist ein renommierter Schweizer Psychologe und Experte für Jugendgewalt, er praktiziert am Institut für Konfliktmanagement (IKM) in Zürich.


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