Der auf 17 Hochzeiten tanzt

Martin Killias wird am 22. Mai seine letzte Vorlesung an der HSG halten. Ein Einblick in ein Leben, das von leidenschaftlicher Forschungsarbeit, dem Schutz uralter Mauern sowie (zu) viel Verantwortung geprägt ist.

Bei der standesgemässen Google-Maps-Rekognoszierung überkamen uns Zweifel, ob uns Professor Killias tatsächlich seine Wohnadresse angegeben hat. Namentlich befand sich die Justizvollzugsanstalt Lenzburg nur wenige Meter vom Zielort entfernt. An einem frühen Samstagmorgen öffnet uns Martin Killias an besagter Adresse – auf der unmittelbar gegenüberliegenden Strassenseite des Gefängnisses – die Haustüre. Dass wir uns aus Höflichkeit unserer Schuhe entledigt haben behagt ihm ganz und gar nicht. Schliesslich besteht er darauf, dass wir die Treter sofort wieder an unsere Füsse schnüren. Das dadurch entstandene Mini-Eis wusste er elegant zu brechen, indem er einen Spruch über seine «Nachbarn» klopfte: «Das sind die ruhigsten Nachbarn, die man haben kann, sie machen nie Lärm beim Grillieren.»
Der 69-jährige Killias selbst führt jedoch ein alles andere als ruhiges Leben. «Um einen Mann wie Martin herum wird einem nie langweilig», unterstreicht seine Frau Pascale Killias. Er tanze auf 17 verschiedenen Hochzeiten. Den nötigen Ausgleich findet er seit vielen Jahrzehnten beim Reiten, das mache seine Gedanken frei. Auch vor Extremsituationen wie einer am frühen Morgen stattfindenden Anwaltsprüfung verzichtete Killias am Nachmittag zuvor nicht auf einen ausgedehnten Austritt – was nicht alle Leute nachvollziehen konnten. Sein Prüfungserfolg gab ihm mehr als nur recht.

Der Schwächen-Katalog

Zeitmanagement und Professor Killias – das ist grundsätzlich keine harmonische Beziehung. Nicht selten kommt er zu spät. Und um sogleich die Liste seiner spärlichen Schwächen abzuhandeln: Handwerklich ist er komplett unbegabt, was seine Frau aber durchaus liebenswürdig findet. Zudem könne er schlecht Nein sagen, sei es gegenüber Organisationen oder Menschen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen – so sind die (zu) vielen von Killias betanzten Hochzeiten zu erklären.
Der Jungspund Killias wollte ursprünglich Geschichte studieren, gleichzeitig aber weder Lehrer noch Journalist werden. Schliesslich entschied er sich für die Juristerei, darin sah er die Möglichkeit, etwas zu bewegen. Die Spezialisierung auf das Gebiet des Strafrechts ist purem Zufall geschuldet: Killias wurde eine Assistenzstelle in ebendiesem Gebiet angeboten. Schliesslich entschied er sich, ein zweites Studium anzuhängen – und zwar in Sozialpsychologie. «Ich hatte gemerkt, dass es gut ist, in diesem Gebiet Kompetenzen zu haben, wenn ich mich Richtung Strafrecht entwickeln will.» Neben dem Studium war Killias übrigens als Kondukteur aus Leidenschaft beim Zürcher Tram anzutreffen.
Von Zürich ging es schliesslich weiter nach Amerika, wo er ein Habilitationsstipendium erhalten hatte. Schliesslich kehrte er für eine Stelle an der Universität Lausanne in seine Heimat zurück. Obwohl er sich «nur» mit Schulfranzösisch beworben hatte, wurde er ausgewählt und blieb der Uni Lausanne stolze 25 Jahre erhalten. Im Anschluss wäre es einer holländischen Delegation beinahe gelungen, Killias zu einer Tätigkeit im Land der Drahtesel zu bewegen. Schliesslich scheiterte der Deal an einer vorsorgetechnischen Hürde. «Das Leben ist nicht immer planbar», blickt Killias zurück und betont gleichzeitig, dass er stets unwahrscheinlich viel Glück hatte in seinem Leben. Da er sich durch das Holland-Angebot an den Gedanken der Veränderung gewöhnt hatte, folgte er kurze Zeit später der Berufung nach Zürich. Noch bevor Killias in Zürich emeritiert wurde, erhielt er eine Anfrage der HSG für eine fünfjährige Strafrechtslehrstuhl-Vertretung. Ebenfalls 2013 eröffnete er in Lenzburg das Institut «Killias Research & Consulting», wo er seine Forschungsarbeit weiterführt. Darauf ist er doch mächtig stolz.

Lifecoach Killias

Als Lifecoach könnte Killias, der von 1984 bis 2008 als nebenamtlicher Bundesrichter tätig war, wohl aussichtsreich auf der 18. Hochzeit tanzen: «Bei Prüfungen sind Leute mit gewissem, aber nicht exzessivem Selbstvertrauen am erfolgreichsten. Man muss die Möglichkeit des Scheiterns noch wahrnehmen», gibt er zu Protokoll. Zudem dürfe man nicht meinen, mit konstant drei Stunden Schlaf in der Lernphase an den anschliessenden Prüfungen die nötige Leistung erbringen zu können. Er persönlich dürfe auf einen Körper zählen, der immer alles gut mitgemacht hat. Dass er nicht mehr der Jüngste ist, merkt er etwa daran, dass er während dem Lesen im Zug in Sekundenschlaf verfällt. Das passiert uns Studenten ja noch nicht… Arbeitet er unter Hochdruck an einer seiner Baustellen, ist er immer voll da. «Auch bei Vorlesungen habe ich nicht den Ruf, während dem Sprechen einzuschlafen», lacht Killias.
Frau Killias serviert Kaffee und setzt sich zu uns. Ihr Ehemann beeilt sich, das Bild der traditionellen Rollenverteilung zu demontieren und stellt klar: «Ich bin dann schon kein Pascha.» So habe er am Morgen das Bett gemacht und er sei auch derjenige, der die Küche aufräumt, wenn Besuch da war.
Kennengelernt haben sich die beiden in der reformierten Kirchgemeinde – sie als Pfarrerin, er (bis zum Beginn der Liebesbeziehung) in der Kirchenpflege. Frau Killias amtete lange Zeit in Lenzburg, nun arbeitet sie als Spitalseelsorgerin beim Kinderspital Zürich. Für beide ist es die zweite Ehe. Aus der ersten brachte Martin Killias drei Kinder mit, die zum Zeitpunkt der Scheidung schon ausgezogen waren und teilweise bereits eigene Kinder hatten. Seine Frau hat zwei Söhne. Da der jüngere der beiden noch zu Hause lebt, ist es im Hause Killias aufgrund gewisser pubertärer Nachwirkungen keinesfalls ruhig. Hinzu kommt die feministisch angehauchte Katze, die «nur bei Männern blöd tut».
Für seine Frau ist es alles andere als selbstverständlich, dass Killias diese familiäre Situation beinahe als eine Art «Fulltime-Job» annimmt. Er entgegnet, dass er dann wohl ein bisschen viele solcher Fulltime-Jobs hätte. Seine Rolle sieht er nicht als Stiefvater, sondern vielmehr als Vermittler. «Ich finde die Adoption etwas ganz Schlimmes», erklärt er und begründet seine Meinung mit dem Identitätsverlust, der als langfristige Folge bei der Adoption von Nachkommen des Partners auftreten kann. Ein Kind einer anderen Person zu seinem eigenen machen zu wollen, sei letztlich ein Übergriff, auch wenn – wie bei seinen Stiefsöhnen – der leibliche Vater verstorben sei. Negativbeispiele aus dem eigenen Umfeld bekräftigen ihn in seiner Meinung.

Zu mobil

Zu den familiären Aufgaben hinzu kommen sein politisches Engagement sowie die Präsidentschaften beim Zürcher, als auch beim Schweizer Heimatschutz. 2011 und 2015 kandidierte er auf der Liste der SP Aargau erfolglos für den Nationalrat. Den Grund für das Scheitern sieht er – leicht augenzwinkernd – in seinen diversen Wohnorts- und Kantonswechseln. Um in der Schweiz politisch Karriere machen zu können, dürfe man auf keinen Fall zügeln. Als «fremder Fötzel» dazuzustossen sei verdammt schwierig. In den drei Jahren beim Heimatschutz hat er gut 100 Prozesse geführt, weitere 50 sind zurzeit hängig. In dieser Tätigkeit profitiert er von seinen Soziologie-Kompetenzen – Denkmalschutz könne man damit besser begründen als mit der Juristerei.
Tags zuvor war er an einer Vergleichsverhandlung bezüglich eines Hauses aus dem 15. Jahrhundert. Sogleich gerät er ins Schwärmen: «Faszinierend, ich finde das so toll! Stallteile und Balken, die 1450 datiert sind, das ist doch einfach verrückt!» Banale Alltagsbauten zu schützen sehen viele Leute nicht ein; aber auch genau das macht gemäss Killias Kultur und Geschichte aus. Seinen Enkeln möchte er unbedingt einmal zeigen können, welche Häuser nur dank ihm noch stehen. Wenn man jemandem seine Leidenschaft anmerkt, dann ihm.
An seinem Lieblingsplatz im Haus soll nun das Fotoshooting stattfinden. Die Wahl fällt rasch auf die Küche. Es ist der Rückzugsort des Ehepaares, hier spricht man sich am Abend aus. Apropos Küche: ein wenig kochen kann Martin Killias. Heute bereitet er jedoch nur noch jene Dinge zu, die er – mit Verlaub – besser als seine Frau beherrscht, namentlich Fisch und Kuchen.

Abschiedsvorlesung am 22. Mai

Schliesslich fragen wir Killias, der sämtlicher vier Landessprachen mächtig ist, wo er sich denn in Zukunft sehen würde. «Irgendwann auf dem Friedhof», antwortet er leicht sarkastisch. Für die Beerdigung habe seine Frau nach diesem vierstündigen Interview wenigstens bereits die Biografie. Genug der Ironie: Das gesteckte Ziel des 69-Jährigen lautet, bis ins Alter von 75 Jahren beim Heimatschutz zu bleiben, danach sei es an der Zeit für etwas Neues. Bisher hat er es übrigens immer geschafft, mit einer Tätigkeit aufzuhören, bevor es ihm jemand nahelegen musste. Am 22. Mai 2018 dieses Jahres findet überdies seine Abschiedsvorlesung an der Universität St. Gallen statt, wobei es auch etwas zu essen geben wird. Vielleicht selbstgebackenen Kuchen à la Killias?
Wir sind uns sicher, dass sich Martin Killias auch danach wieder einer neuen Leidenschaft hingeben wird. Ansonsten könnte ihm ja noch langweilig werden.


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