«Ich hatte enormes Glück, dass mir jemand eine Chance gab»

Vom Vermessungszeichner über einen Networking-Event zum Assistenzprofessor – Martin Föhse überrascht mit einem einzigartigen Karriereweg. prisma erfuhr ganz private Dinge, auch aus seinem langjährigen Leben als Frau.

Eine friedfertige Idylle liegt zwischen dem Thuner- und Brienzersee – gleichsam einem Bilderbuch entsprungen. Die Gemeinde Unterseen befindet sich eingerahmt von Bergen direkt neben Interlaken. Das Touristenherz des Berner Oberlands weiss nicht nur Urlauber aus der ganzen Welt anzuziehen, sondern verzaubert mit seinem fast schon übermächtigen Charme auch Kinder der Stadt. Unmittelbar an der Gemeindegrenze auf einem kleinen Eiland mit Blick auf die Aare befindet sich das Zuhause von Martin Föhse. «Manchmal vergesse ich, dass ich hier auf einer kleinen Insel wohne», meint er schmunzelnd, als wir ihn auf die wunderbare Lage ansprechen. Hier hat der Professor unter anderem seine Dissertation geschrieben und schätzt die ruhige Arbeitsatmosphäre. Der Beck ums Eck spielt dabei eine grosse Rolle.

Geborener Landjunge – per Zufall Gymnasiast

Martin Föhse wuchs als Einzelkind im märchenhaften Emmental auf. Sein Vater ist Deutscher und kommt aus Berlin. Somit bestand schon von klein auf ein Bezug zum grossen Kanton und die Kindheit war geprägt von Erlebnissen und Geschichten aus beiden Teilen Deutschlands. Nach dem Abschluss der Schule machte Föhse eine vierjährige Lehre als Vermessungszeichner. «Mein Vater ist Ingenieur für Landkartentechnik, also Kartograph; vielleicht hatte dies einen Einfluss auf meine Wahl.» Mit zehnwöchigen Blockkursen in Zürich und dem Arbeitsbeginn um sieben Uhr lernte Föhse schon in jungem Alter, was es heisst, in der Berufswelt tätig zu sein.
Plötzlich taten sich mehr Möglichkeiten auf. Ursprünglich war das Ziel, Vermessungsingenieur zu werden, doch die durch den Erwerb der technischen Berufsmatura erweckte Neugier nach Allgemeinbildung motivierte den jungen Lehrling, den Weg ans Gymnasium einzuschlagen. Föhse war ein Sonderfall: Noch nie gab es dort jemanden, der nach einer abgeschlossenen Lehre nochmals zwei Jahre die Schulbank drücken wollte. «Ich hatte das Glück auf einen Rektor zu treffen, der mir eine Chance gab», erinnert sich Föhse. Es ging dann alles Schlag auf Schlag: Von einem Tag auf den anderen sass er in einer Klasse.
Insbesondere der Englischunterricht war eine Qual: Was die anderen schon jahrelang durchkauten, musste sich Föhse innert kürzester Zeit aneignen. Ausserdem war er vier Jahre älter als seine Mitschüler. Der Vorsprung an Lebenserfahrung machte sich in vielen Situationen bemerkbar. «Viele meiner Klassenkameraden existierten in einer ganz anderen Welt und hatten noch keine Ahnung vom richtigen Leben, geschweige denn vom Arbeiten», bemerkt Föhse. Nicht wenige waren sich ihrem Privileg, in einem Gymnasium den Geist des Wissens eingeflösst zu bekommen, gar nicht bewusst. Für Föhse eine riesengrosse Chance, für andere mehr Ferien als tatsächlicher Ernst.

Aus dem Emmental
in die Hauptstadt

Wie viele angehende Maturanden tat sich auch Föhse in der Wahl eines Studiengangs schwer. Nur eines war klar: Ein Studium an der Universität Bern – andere Bildungsanstalten kamen aus finanziellen Gründen nicht in Frage. Seine Auswahl beschränkte sich auf Medizin oder Rechtswissenschaften. Den Numerus Clausus hatte er mit Bravour bestanden – ein Studienplatz an der Universität Bern war ihm sicher. Nach langem Hin und Her merkte Föhse aber schnell, dass die medizinischen Tätigkeiten ihm einen Tick zu weit unter die Haut gingen. «Es gibt Momente, in welchen ich meinen Entschluss gegen den Wunsch-Studienplatz schrecklich bereue», gibt Föhse zu. Die Wahl richtete sich jedoch nicht ausschliesslich gegen Medizin – den angehenden Jus-Studenten faszinierten schon in jungen Jahren die Schreibkunst, präzise Artikulation und die Auslegung einzelner Geschehnisse. Der einzige Bezug zur Welt der Rechtswissenschaften war ein Vorfall mit der Justiz: sein Cousin fuhr unerlaubt mit Martins «aufgepimpten» Moped herum und wurde erwischt – die Konsequenzen durfte Föhse anschliessend ausbaden. «Es gab eine Busse und ich bekam mein «Töffli» um einige Bestandteile erleichtert zurück, doch waren sogar die Beamten ziemlich amüsiert über dieses Kavaliersdelikt.»
Schon nach kurzer Studiums-Zeit verliebte sich Martin Föhse ins römische Privatrecht. Dies zeigt sich auch in seinem Zeitvertreib – der Lektüre historischer Romane. Aufgrund der Passion des Vaters war er auch häufiger in Italien und lernte das Land kennen und lieben. Der Student war sich jedoch noch nicht sicher, was er später machen wollte. Sein Studium genoss er in vollen Zügen und verfolgte dabei das Ziel in naher Ferne ein Anwalts-Patent zu machen. «Ich hatte nicht nur beinahe die Praktika-Termine verpasst, sondern kannte mich in guten Kanzleien auch nicht aus.» Nach dem Abschluss begann Föhse komplett blauäugig ein Gerichtspraktikum, welches ihm gut gefiel. Sein Karriereweg führte ihn schliesslich in eine Anwaltskanzlei nach Biel. Dort erlebte der junge Anwaltspraktikant eine intensive und lehrreiche Zeit.
Bereits kurz vor dem Erwerb des Anwaltspatentes erhielt er eine Stelle als Gerichtsschreiber am Bundesverwaltungsgericht und erstmals mit dem öffentlichen Recht in Kontakt. «Damals war ich aber noch nicht reif für diese Art von Arbeit.» Deshalb wollte er es nochmals wissen und ging zu einer grossen Wirtschaftskanzlei in Bern und fokussierte sich aufs Privatrecht. Dieser Lebensabschnitt war durch ein einschneidendes Erlebnis geprägt, da genau zu diesem Zeitpunkt der in mancher Hinsicht zunächst karriereschädigende Wechsel stattfand: Föhse verlor seine Stelle. In einer Nacht- und Nebelaktion verschwanden die Dossiers aus seinem Büro und die Schränke wurden geleert. Erklärung der Kanzlei: Wir haben für Sie leider nichts mehr zu tun.

Vom Mann zur Frau

An einem Networking-Event lernte er einen HSG-Professor kennen, der ihn auf eine frei werdende Assistenzprofessur an der Uni hinwies. 2016 kam Martin Föhse als Kathrin Föhse an die HSG. Gut 10 Jahre lang lebte er als Frau. «Wenn ich es irgendwie hätte vermeiden können, dann hätte ich das liebend gerne getan. Ich habe damals jedoch keinen anderen Weg gesehen», erklärt Föhse seine Entscheidung. Mit allen Ungewissheiten und Risiken zog Martin das Leben als Frau durch – wurde Kathrin. Dabei sei vor allem auch das private Umfeld eine enorme Unterstützung gewesen.
Im letzten Jahr entschied sich Kathrin dazu, wieder als Martin durchs Leben zu gehen. Vorher musste sie kaum vor vielen Menschen stehen. Plötzlich begann sie zu hinterfragen, was die Studierenden wohl von ihr denken. «Fühle ich mich überhaupt noch wohl?»
Während dieser Zeit habe er sich selbst viel besser kennengelernt. «Das würde noch manchem Mann guttun», meint er schmunzelnd. Die Frauenwelt sei ein komplett anderer Kosmos. Man werde permanent unterschätzt, was einem als Mann nie passiere. «Es sind Kleinigkeiten, wo ich das Gefühl habe, dass man sich als Frau viel mehr beweisen und bemerkbar machen muss.» Umgekehrt könne man im aktuellen Zeitgeist beruflich vielleicht davon profitieren, Frau zu sein. Ärgerlich sei aber das «Quotenfrau»-Problem. Alleine im letzten Quartal habe Kathrin eine Anfrage für eine Top-Kaderposition sowie für zwei Verwaltungsratsmandate erhalten. «Die haben bei mir aufgrund der Häufung ein wenig den Geschmack der Quotenfrau hinterlassen – einer hat dies ganz unverblühmt zugegeben.» Frau sein als rein formales Qualifikationsmerkmal? Das sei absurd. «Ich denke, dass einige noch nicht ganz verstanden haben, worum es beim Thema Diversity geht.»

Der Kündigung sei Dank

Nachdem sie die Stelle in der Wirtschaftskanzlei verloren hatte, fing Kathrin beim Bundesamt für Energie an. Nach einem Jahr wurde sie Sektionschefin. Zwei Monate später passierte die Fukushima-Katastrophe und Föhse fand sich unversehens als federführende Juristin im grössten Gesetzgebungsprojekt des Bundes seit langem wieder.
Über das ganze gesehen, dürfe er sich wohl als Glückskind bezeichnen. «Im Nachhinein muss ich der Kanzlei fast dankbar für die Kündigung sein», sagt Föhse. Sonst hätte sich diese Chance nie ergeben und er wäre nie an diesem Punkt angelangt, an welchem er sich nun befinde.
Angesprochen auf seine Sicht auf die HSG muss Martin Föhse etwas überlegen: «Ich bin von meiner Alma Mater eine ganz andere Unikultur gewöhnt.» Im Vergleich zur Uni Bern sei die HSG eine spezialisierte Universität, wo nicht solche mannigfaltigen und gegensätzlichen Studiengänge angeboten werden – dies präge die Bildungsinstitution. Das Studium sei stark verschult, was sowohl Vor- wie auch Nachteile habe. «Die Studierenden der HSG zeichnet ein enormer Ehrgeiz, einen starken unternehmerischen Geist und eine ausgeprägte Leistungsmentalität aus», bemerkt Föhse anerkennend.
Neben seiner beruflichen Tätigkeit als Anwalt und Professor sei jetzt wahrscheinlich ein Umzug in die Hauptstadt geplant, denn wie Martin Föhse selbst sagt: «Ich liebe Bern!»


Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

*

*

*