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  1. «Für mich vergewaltigst du indiesem Moment eine Frau»

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    Bild von Liv Antonsen

    Als sich Grazia mit 18 Jahren bei einer Dating-Plattform angemeldet hat, suchte sie das, was sich die meisten von uns wünschen. Gefunden hat sie aber einen Loverboy, eine Masche in die unfreiwillige Sexarbeit. Die Geschichte von Grazia, ihrem Weg in die Prostitution und dem langen Kampf hinaus. Ein Portrait.

    Ein sonniger Morgen in Zürich. Wir sind für ein Interview bei einer Ausstiegshilfe an der Langstrasse verabredet. Was wir in den nächsten zweieinhalb Stunden hören, werden wir nie vergessen. Es ist die Lebensgeschichte einer jungen Frau, jünger als wir, eine deutsche Staatsbürgerin, Mutter und ehemalige Sexarbeiterin. Kurz nach der Volljährigkeit wurde sie in die Prostitution geführt, arbeitete in Deutschland und der Schweiz, er- und überlebte das Milieu. Drei Jahre später sitzt sie mit ihrem Sohn auf dem Sofa in Zürich und erzählt uns ihre Geschichte. «Ihr dürft mich alles fragen», meint sie mit sicherer Stimme. Neben ihr ist Jael, eine Mitarbeiterin bei der Ausstiegsorganisation Heartwings und Begleiterin auf Grazias Weg. Es ist ein Einzelschicksal, welches in ähnlicher Form viele Frauen teilen. Doch alles auf Anfang, wo Grazias Geschichte in die Prostitution begann. Ein Portrait über eine Frau, welche über das spricht, was sonst verborgen bleibt

    Das grosse Glück des schüchternen Mädchens
    «Vorab muss ich sagen, ich habe ganz wenig Liebe von Zuhause bekommen», leitet sie ein und erzählt von einer Kindheit im Plattenbau und Mobbing in der Schule. Als unbeliebtes Mädchen mit wenigen Rückhalt von Zuhause war sie unsicher und schüchtern. Gleichzeitig war während der Pubertät die Neugierde gross und Grazia offen. Mit 15 hatte sie ihren ersten One-Night-Stand, sammelte Erfahrungen. Rund drei Jahre später, gerade volljährig, meldet sie sich dann bei einer DatingPlattform an – und scheint endlich Glück zu haben. It’s a Match! Der besagte Mann erfüllt alle Träume: Er ist gross, kräftig, breit gebaut und erfolgreich. Es ist eine bis dahin noch unbekannte Welt für sie, eine mit teuren Autos, den neusten iPhones und Markenschuhen. Dabei ist nicht nur der Erfolg ein Kontrast zu ihrem bisherigen Leben, sondern auch der Umgang. Plötzlich wird sie gesehen, geliebt und begehrt. Denkt sie zumindest. Denn dieser Mann ist ein Loverboy.

    Loverboy ist eine Masche, bei welcher ein zumeist junger Mann einer oftmals jüngeren Frau Liebe vortäuscht. Ziel ist es, die Frau emotional zu binden und gleichzeitig von Drittpersonen zu distanzieren.
    Sobald die Frau genügend abhängig ist, wird sie in die Prostitution geführt oder gezwungen. Effektiv
    sind Loverboys Zuhälter oder Menschenhändler, welche über Mittel der emotionalen Manipulation
    Frauen ausbeuten.

    Ein unschuldiger Job für gutes Geld
    Mit einem vagen Versprechen einer lukrativen Arbeitsstelle vermittelt der vermeintliche Freund bereits zwei Wochen nach dem Kennenlernen einen Job. Denn der Loverboy weiss, dass Grazia finanziell benachteiligt aufgewachsen ist. Doch während sie noch von einem Fotoshooting oder nicht-sexuellem Escort ausgeht, war ihr Weg in die Prostitution bereits im Gange. Der Freund liefert sie vor einem Laufhaus ab, eine andere Frau übernimmt und führte sie in ein Zimmer. Umziehen, eine Liste mit Preisen merken und lächelnd hinsetzen. Noch bevor sie realisieren kann, was gerade passiert, ist es geschehen.
    Auch heute noch kann sie sich gut an ihren ersten Kunden erinnern. Einen rund 50 Jahre alter Mann, vernarbtes Gesicht. Sowas vergisst man nicht. Eine viertel Stunde und fünfzig Euro später ist es vorbei. Und Grazia kann es kaum fassen. Fünfzig Euro in fünfzehn Minuten. Wo bekommt man das sonst
    her. Sie denkt an ihre Familie. Vielleicht kann sie damit etwas verändern, bringt das grosse Geld. Und ist überwältigt und wie benebelt von dieser Situation.

    6‘000 Euro in zwei Wochen
    In den kommenden Tagen holt ihr Loverboy sie jeden Tag ab, redet es schön, spricht viel mit ihr. «Weiss der überhaupt, was ich gerade mache?», fragt sie sich und hat sogar ein schlechtes Gewissen. Doch auch diese Freude bleibt kurz und er beginnt Druck aufzubauen. Zwei Wochen später hat sie bereits 6‘000 Euro
    verdient. Als er schreibt, sie solle ihr ganzes Geld mitnehmen und zum Hauseingang kommen, versteht sie es nicht. Verliebt wie sie ist, folgt sie seinen Anweisungen und steigt mit dem Geld in sein Auto. Während sie gemeinsam dort sitzen, packt er ihr Portemonnaie und nimmt sich alles heraus. «Das hast du gut gemacht», meint er – und Grazia ist geschockt. Perplex durch diesen Moment kann sie nichts entgegnen. Sie fahren weiter zu Aldi, kaufen ein – mit ihrem Geld – und füllen damit den einen Kühlschrank, den alle 20 Frauen im Laufhaus gemeinsam verwenden.

    Zurück im Haus kann sie es noch immer nicht fassen und spricht mit einer Arbeitskollegin. Auf die Frage, ob das normal sei, meint diese: «Natürlich. Er ist dein Mann, dein Zuhälter, dein Beschützer, dein Alles». Denn hinter jeder Frau steckt ein Mann. Es ist eine Weisheit, die Grazia noch einige Male so erleben wird.
    Während sie zunehmend unglücklich über die Situation wird, baut ihr Loverboy zunehmend Druck auf und gibt den Ton an. Er meint, er sei bei den Hells Angels, droht mit Gewalt und damit, dass er wisse, wo ihre Familie wohne. Gerade als die Situation immer unerträglicher wird, kommt die Pandemie. Covid ist da, alles muss schliessen und Grazia wünscht sich nur eines: Zeit mit ihrem Freund zu verbringen. Denn während er Grazia ausbeutet, manipuliert er weiterhin, um das Bild der vermeintlichen Liebe. Das Glück im Unglück

    Weil das Laufhaus ebenfalls schliessen muss, möchte er, dass sie sich privat mit Kunden trifft und auf ‘Städtereisen’ geht. Doch ohne Schutz riskiert sie nicht nur eine Ansteckung mit dem damals noch kaum erforschten Coronavirus, sondern auch ihre eigene Sicherheit. Egal ob Outdoor, in Hotels, zu privaten Wohnungen oder im Auto – im Fall einer Vergewaltigung oder anderen Formen der Gewalt hat sie keine Möglichkeit, Hilfe zu bekommen. Zudem macht sie sich mit der Umgehung des Verbots strafbar. Dennoch besteht der Loverboy darauf, dass sie weiterarbeiten soll. Sie nutzt indes die vermeidliche Schwäche im neuen System und lehnt nun die Freier heimlich ab, sagt ihrem Loverboy, es gäbe keine Kunden. Doch dieser wird aggressiver und fordert mindestens zwei bis dreitausend Euro pro Woche – sonst wird der freie Tag mit ihm gestrichen und sie muss sich auch an diesem prostituieren. Die Situation scheint ausweglos. Grazia arbeitet und lebt in kalten Zimmern mit Schimmel an den Wänden und ohne Unterstützung. Auch sonst sind die Bedingungen unmenschlich. Sie steht zwischen sieben und acht Uhr auf, arbeitet den ganzen Tag, ist erst zwischen drei und fünf Uhr nachts wieder fertig. Geschlafen wird kaum, sie ist ständig auf Abruf, immer bereit, den nächsten Kunden zu empfangen.

    Sex, Gewalt und Abtreibungen
    Ist man einmal im System «Loverboy» drinnen, führt kaum mehr ein Weg wieder heraus. Eine Spirale aus Druck, Gewalt und Abhängigkeit macht die Prostitution zum Alltag. Man darf nicht vergessen, wie die Zuhälter genau wissen, was sie tun. Der Mix aus emotionaler Abhängigkeit, Androhungen von Gewalt gegenüber den Prostituierten und ihren Familien sowie perfide Systeme mit Schulden und Abgaben führen dazu, dass ein Ausstieg oder Widerspruch kaum möglich ist. Dies gilt für fast alle Frauen und Forderungen. Grazia erzählt von einer Arbeitskollegin aus einem der Laufhäuser. Eines Tages, sie kommt
    gerade in das Haus zurück, hält die Kollegin ihr ein Blutbündel entgegen. Es ist ein Embryo. Es sei das Kind des Zuhälters meint die Frau. Dieser hat sie wegen der ungewollten Schwangerschaft verprügelt, die Abtreibung verlangt. Daher schluckte sie Abtreibungstabletten, schied den Embryo aus und spült ihn nun über die Toilette hinunter. Ohne eigenständig darüber nachdenken zu dürfen. Widerstandslos. Auch Grazias Zuhälter schreckt nicht vor Gewalt zurück, es bleibt nicht bei den Drohungen. Eines Tages schlägt dieser sie, verletzt sie am Bein mit einer Scherbe, verprügelt sie. Er, ein fast zwei Meter grosser, durchtrainierter Mann. Sie eine schmale Frau. Wehren kann sie sich nicht, Hilfe holen genau so wenig. Irgendwo in diesem Gewaltakt schwenkt er um, es kommt zum Geschlechtsverkehr. Er will Sex, sie nicht. Sie gibt keinen Konsens, sie will es nicht. Es ist eine Vergewaltigung. Für Grazia ist diese Erfahrung der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Die Gewalt und der Missbrauch werden zu viel,
    der Wille ist nicht mehr da. An diesem Abend trinkt sie, nimmt viele Tabletten, will sich das Leben nehmen, um das nicht mehr ertragen zu müssen. Sie will, dass es aufhört. Es muss enden.

    Das Erwachen
    Am nächsten Morgen wacht sie auf. Sie spürt den letzten Abend, aber sie lebt noch, liegt in ihrem Zimmer. Sie schaut auf ihr Handy. Eine Arbeitsfreundin hat ihr geschrieben. Komm doch in die Schweiz, hier ist alles noch offen, hier kannst du gutes Geld machen, meint sie. Für Grazia ist das ein Zeichen. Es geht nicht um die Arbeit, nein, es geht um die Chance. Um in die Schweiz zu kommen, muss ihr der
    Loverboy ihre Papiere zurückgeben – wodurch sie die Möglichkeit hat, von allem wegzukommen, zu verschwinden, neu anzufangen.

    Für Grazia ist klar, das muss funktionieren. Sie erzählt ihrem ‘Freund’ davon, macht gute Miene zu bösem Spiel. Auch er lässt sich vom gestrigen Tag nichts anmerken, willigt ein. Sein Plan ist konkret: Sie kann drei Monate steuerfrei und ohne Anmeldung in der Schweiz arbeiten. Nach sechs Wochen komme er vorbei und hole das Geld. Nach weiteren sechs Wochen soll sie zurückkommen. Dabei weiss er bestens über Anmeldepflichten und das Arbeitsrecht Bescheid. «Woher weiss er das?», fragt sich Grazia und ist sich mittlerweile sicher, den wahren Mann hinter ihrem Freund endlich zu erkennen. Hier schlägt der Loverboy auch vor, dass sie helfen könne, eine Nebenfrau anzuwerben. Sie sei natürlich nach wie vor die Hauptfrau. Aber die Nebenfrau bringt zusätzliches Geld. Grazia möchte aber nicht. Egal wie sehr sie zu Beginn in ihn verliebt war. Sowas hat nichts mit Liebe zu tun.

    Der unsichtbare Menschenhandel
    Damit der Loverboy auch weiterhin die Kontrolle behält, hat sich dieser etwas ausgedacht. Er nimmt ein kleines Zweithandy hervor, kein Smartphone, nur ein paar Knöpfe und ein Display. Die Abmachung ist simpel: Schickt er ein bestimmtes Emoji über Snapchat, wird über das andere Handy telefoniert. So verschwindet die Spur auf Snapchat, die Wegwerfhandys wiederum verschleiern den Rest. Dieser Mechanismus ist wichtig: Zum einen behält er so die Kontrolle über Grazia, zum anderen kann ihm diese kaum nachgewiesen werden. Denn um den hier eigentlich stattfindenden Menschenhandel in der Schweiz anzuzeigen, müsste Grazia nicht nur Beweise vorlegen, sondern auch nachweisen, dass dieser in der Schweiz passiert ist. Denn die Schweiz verfolgt nur, was in der Schweiz passiert und belegt werden kann.

    Zwischen Geld und Hoffnung
    Als Grazia in den Zug steigt, überkommt sie ein besonderes Gefühl. Das Gefühl, einen Menschen soeben zum letzten Mal gesehen zu haben. Und die Hoffnung, endlich wieder die eigene Freiheit zurückzubekommen. Einige Stunden später kommt sie in Zürich an. Für die Anreise hat sie CHF 300 und das Nötigste mitbekommen, sonst nichts. Für das Zimmer leicht ausserhalb von Zürich wiederum wird
    eine Miete von CHF 220 fällig, welche sie zu zahlen hat. Pro Tag. Das ergibt eine Monatsmiete von 6‘600 für ein einzelnes, heruntergekommenes Zimmer ausserhalb von Zürich. Ein Wucherpreis. Von nun an muss sie dieses Geld einnehmen, Tag für Tag, auch für freie Tage oder bei Krankheit. Andernfalls muss sie
    Schuldscheine unterschreiben und darf nicht weg, bis sie diese beglichen hat. Dadurch wird eine Flucht auch hier ab dem ersten Tag schwierig.

    Die initiale Hoffnung einer Flucht verfliegt schnell, denn das System in der Schweiz hält Frauen genauso klein. So beginnt nach einiger Zeit eine weitere Odyssee. Sie kehrt nach Deutschland zurück, versucht dort, aus dem Laufhaus zu fliehen. Doch auch dieser Versuch scheitert, denn ihr Loverboy kennt die
    Wohnung ihrer Eltern, Grazia selbst fühlt sich nicht mehr sicher und zuhause bedroht. Mangels Alternativen reist sie erneut in die Schweiz, diesmal ohne Loverboy, und taucht hier unter.

    Organisierter Missbrauch und miese Maschen
    Um in der Schweiz über die Runden zu kommen, fällt sie zurück in die Prostitution. Auch wenn der Loverboy nun nicht mehr über Grazia verfügt, kann sie sich den kontrollierenden Männern nicht entziehen. Einen eigenen Arbeitsort und Wohnung als Prostituierte zu erhalten ist faktisch unmöglich. Das verhindert ein Netz an Abhängigkeiten, wie Grazia später noch erklärt. Stattdessen gibt es alternative Systeme. Entweder man bezahlt Wuchermieten im Tagessatz, oder man gibt einen Anteil am eigenen Verdienst den Inhabern der Lokalität ab. Dieser liegt häufig bei 50% der Einnahmen und steht somit auch in keinem Verhältnis. Lehnt eine Frau in solchen Häusern die von den Freiern gewünschten Extras ab, beispielsweise zusätzliche Sexualpraktiken wie das Blasen ohne Kondom, muss die Prostituierte teilweise sogar 70% des Geldes abgeben. Die Strukturen sind perfide und durchdacht, jeder Schritt wird kontrolliert, damit die Frauen kein Geld von den Zuhältern und Clubbesitzern unterschlagen können. Grazia arbeitet über ihre gesamte Karriere in acht verschiedenen Etablissements in der Schweiz. Keines davon hat sie fair behandelt.

    Wer sind die Männer?
    Doch wer sind die Männer überhaupt, welche sich Sex für Geld kaufen? Sie kommen aus allen Schichten, quer durch die Berufs- und Altersgruppen, sagt Grazia. Es sind sowohl Ehemänner wie Alleinstehende, gepflegte wie ungepflegte, im Beruf erfolgreiche und gescheiterte. Grazia erzählt, wie man mit der Zeit ein Auge für die Männer entwickelt. Man sitzt im Tram und studiert die Gesichter der Männer, fragt sich, auf welche Fetische sie wohl stehen. Grazias Erfahrung nach zieht jede Frau einen anderen Typ Mann mit einem anderen Fetisch an. Bei manchen sind es Füsse, bei anderen Domina-Spiele oder Analsex mit einem Riesendildo – das alles hat sie schon erlebt. Bei ihr war es aber ein anderer Typ Mann, den sie angezogen hat. «Ich war zum Beispiel eine Frau, die die ganz Alten angezogen hat, die etwas mehr Geld hatten, aber
    darauf standen, dass ich eine Vierjährige spiele». Wenn sie heute über diese Fetische redet, stolpert sie nicht. Sie spricht bestimmt, erzählt aus der Realität. Sie fragt sich aber auch, was sonst noch hinter den Menschen steckt, welche ihre pädophile Neigung bei ihr ausgelebt haben.

    Der Weg in die Freiheit
    Auch während ihrem zweiten Aufenthalt in der Schweiz gibt es kaum Freunde. Diese gibt es im Milieu nicht wirklich, denn dort dreht sich alles nur um Geld, den Zuhälter und um das eigene Überleben. Eine der wenigen Ausnahmen ist ein Rocker, der in Grazia nicht nur die Prostituierte sieht, sondern die Frau, die sie eigentlich ist. Er bestärkt sie darin, dass dieser Lebensweg nicht ihre Berufung ist, hilft dabei, die Schulden bei der ersten Unterkunft abzuzahlen. Als ihr letzter Club sie dann aber wegen eines positiven Coronatests rausschmeisst, ist sie für einige Tage obdachlos in Zürich. In dieser Zeit kommt sie in den Kontakt mit verschiedenen Organisationen und entscheidet sich für das staatliche Schutzhaus. In diesem Schutzhaus bleibt sie auch einige Tage. Doch schnell wird klar, dass dieses nicht weiterhelfen kann. Denn das Rechtssystem führt dazu, dass die vom Schutzhaus geforderte Anzeige ihr selbst mehr schaden würde, während die Täter kaum belangt werden können. Als sie ohne Perspektive und Kontakte dasteht,
    meldet sich eine private Ausstiegshilfe erneut bei ihr. Der Verein Heartwings bietet an, dass Grazia in ihrem Kleiderladen etwas aussuchen kann – und baut damit die Beziehung auf, welche Grazia schlussendlich aus dem System führen wird.

    Während Grazia von einer Zeit voller Lügen, Missbrauch und Ausnutzung geprägt ist, kommen ihr bei Heartwings erfahrene Helferinnen entgegen. Die Frauen kennen das Milieu, verstehen die Sorgen und hören zu. Unkompliziert helfen sie ihr, das Abhängigkeitsdreieck zu durchbrechen: Denn für einen Neustart braucht es eine Wohnung, für eine Wohnung braucht es ein Bankkonto mit Geld und einen
    Job, für einen Job eine Wohnung und ein Konto und für ein Konto eine Wohnung und Geld durch einen Job. Hier springt Heartwings ein, liefert einen Vertrauensvorschuss, organisiert mit. Sie begleiten Behördengänge, vermitteln Hilfsangebote – und unterstützen die Frauen dabei, sich von den Erfahrungen zu heilen, wie sie sagen. Heilen heisst nicht verdrängen, sondern in erster Linie Platz zu schaffen, die
    Vergangenheit zu verarbeiten und die eigene Zukunft aufzubauen. Wer teilweise jahrelang im System Prostitution gefangen war, weiss manchmal nicht einmal, was man sich überhaupt für die Zukunft wünscht. Auch für Grazia beginnt der Weg hinaus aus der Welt, in die sie ohne Einwilligung geführt wurde.

    Geprägt fürs Leben
    Nicht mehr als Prostituierte zu arbeiten, beendet das Thema aber nicht. «Ich kann damit nicht abschliessen. Es geht gar nicht. Es ist ein Teil von meinem Leben», sagt sie noch heute.  Es sind keine Worte der Resignation, sondern solche der Anerkennung. Diese Erfahrungen können nicht einfach zur Seite geschoben werden, sie sind ein Teil ihres Lebens, sie haben sie geprägt und sie werden sie für immer prägen. So stösst sie immer wieder auf Grenzen, als sie versucht, das alte Leben hinter sich zu lassen. Sie beginnt eine Lehre in der Schweiz und geht zur Schule. Doch ihre gleichaltrigen Mitschüler*innen hören Songs mit Zeilen wie «Ich schick’ die Nutte anschaffen.» Während die Kamerad*innen diese Worte ‘feiern’, denkt sie an ihre eigene Vergangenheit. Sie mögen gleich alt sein wie Grazia, aber ihre Erfahrungen stehen im Gegensatz. Man macht sich lustig, besucht die öffentlichen Sexboxen zum Sightseeing, reisst Sprüche. Auf der anderen Seite steht Grazia, die ihre eigene Vergangenheit leugnet, um überhaupt ihre Ausbildung zu bekommen. Denn wer «Prostituierte» im Lebenslauf hat, bekommt kaum eine Stelle. Generell sind es die alltäglichen Fragen, welche einem mit der Vergangenheit konfrontieren. Was antwortet man, wenn man gefragt wird, warum man in die Schweiz gekommen ist? «Weil ich von meinem Zuhälter geschickt wurde», ist nun mal nicht die Antwort, die man beim lockeren Kennenlernen gibt. So
    ziehen sich die Implikationen quer durch das eigene Leben, egal ob im Beruf, mit Freunden oder in künftigen Beziehungen.

    Die Heilung
    Ist man erst einmal aus den Strukturen des Milieus draussen, folgt die Frage, wie man sich von solchen Erlebnissen erholt. Denn eine Wohnung und ein Job lassen einem den ganzen Rest nicht vergessen. Bei Grazia ist es ein mehrstufiger Weg. Es braucht Zeit, um wieder in geregelten Tagesstrukturen leben zu
    können und behördliche Themen abzuarbeiten. Fast wichtiger ist aber die psychologische Ebene. Als Prostituierte zu arbeiten ist von kaum einem Mädchen der Lebenstraum. Wovon träumt man also? Was will man erreichen? Und wie will man mit der eigenen Vergangenheit umgehen? Heartwings unterstützt Grazia auf drei Ebenen. Die erste ist das zuvor genannte Durchbrechen des Job-Bank-Wohnung-Dilemmas, welches den eigentlichen Ausstieg überhaupt ermöglicht. Parallel dazu bietet sie Grazia
    aber auch die Zeit, zuerst einmal wieder in Strukturen anzukommen und sich mit dem eigenen Leben auseinande usetzen. Für Grazia bedeutet dies beispielsweise, ihre eigene Geschichte aufzuschreiben, ihre Träume zu definieren und aktiv nach vorne zu blicken. Zuletzt bietet der Verein aber das, was eigentlich selbstverständlich sein sollte und doch so oft fehlt: Eine Person zu haben, welche zuhört und einfach einmal glaubt und versteht. So erarbeitet sich Grazia Stück für Stück ihr neues, selbstbestimmtes Leben, in welchem sie für ihre Ziele kämpft.

    Der Blick zum alten Leben
    Aus der sicheren Distanz blickt Grazia mit einem klaren Blick zurück. In ihrer gesamten Zeit – und somit über diverse Laufhäuser und Clubs hinweg – traf sie keine einzige Frau, welche diesen Job freiwillig gemacht hat. Sie weiss heute aus erster Erfahrung, dass es keine normale Arbeit ist. Wäre es eine, würde einiges anders sein. Warum sonst gibt es keinen Probetag zum ‘Reinschnuppern’ und so viel Nähe zu Kriminellen, Drogen und Gewalt? Generell liegt es nahe: Würde eine Frau effektiv so gerne mit Männern schlafen, beispielsweise weil sie nymphoman ist, kann sie genauso gut in den Club gehen und sich dort
    ihre Partner aussuchen. Oder in Bereichen arbeiten, die einem Freiheiten lassen. Wo liegt denn der Vorteil, wenn man Wuchermieten zahlen muss, die Hälfte seiner Einnahmen abzugeben hat und stets Leute mitverdienen, welche Druck gegen einen aufbauen? Solche Systeme entstehen nicht in einem normalen Arbeitsmarkt, sondern nur an Orten mit enormen Machtgefällen. Die Erfahrung zeigt auch: Reinkommen in den Beruf «Prostituierte» ist leicht, rauskommen verdammt schwierig. Entsprechend resümiert Grazia heute mit klaren Worten: Auch wenn es Ausnahmen geben mag, ist es ein Trugschluss zu glauben, dass die Frauen diesen Beruf freiwillig machen würden. Wer mit einer Prostituierten schläft, muss davon ausgehen, dass dies nicht in vollen, freien Zügen geschieht. Entsprechend ist für sie klar: «Für mich vergewaltigst du in diesem Moment eine Frau». Es ist eine harte Aussage. Aber schlussendlich die Konsequenz eines Systems, in welches man zwar schnell reinkommt, aus dem der Ausstieg aber kaum ohne externe Hilfe möglich ist.

    Die Hoffnung und die Zukunft
    Heute sieht die Welt aber anders aus. Grazia hat den Ausstieg geschafft, ist endlich frei und es geht ihr gut. Dennoch ist damit das Thema Prostitution für sie nicht beendet. Denn Grazia weiss, was sie aus ihrer Lebenserfahrung machen will: Sie möchte eine Stimme für all diejenigen Frauen sein, welche selbst nicht
    für sich einstehen können. Dieses Ziel möchte sie für den weiteren beruflichen Weg mitnehmen. Auch für ihr Privatleben sind ihre Träume und Wünsche klar: «Ganz viel Liebe für meinen Sohn», sagt sie. Er steht an erster Stelle. Denn dieser sollte so aufwachsen, wie es jedes Kind verdient hat. Wichtig ist ihr, die Zukunft positiv zu gestalten. Für ihr Kind, für unterdrückte Frauen und nicht zuletzt für sich selbst.

  2. Neu in der Schweiz? So sparst du Geld!

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    10 CHF für einen Döner, Studiengebühren, Miete… Insbesondere ausländische Studierende sind anfangs geschockt von ihren Ausgaben in der Schweiz. Über die Zeit lernt man aber ein paar Tricks kennen, damit man nicht zu tief in die Tasche greifen muss. Hier sind fünf Tipps, wie ihr etwas Geld sparen könnt. 

    Nutze die Angebote der Uni

    Auf den ersten Blick wirken die Studiengebühren hoch. Doch auf den zweiten erkennt man, dass die Universität dafür auch mehr anbietet. Anstelle vom teuren Fitnessstudio–Abo gibt es den Unisport. Des Weiteren werden Konversationskurse angeboten, in der Bibliothek kann man sich die neuesten Zeitungen ausleihen, man kann Termine bei einer Schreiberatung aus machen, sich seinen CV im Career Center checken lassen… 

    Setz dich mit dem Müllsystem auseinander 

    Dieser Punkt klingt vielleicht etwas lächerlich, doch insbesondere als ausländischer Student tut man sich anfangs schwer das Müllsystem der Schweiz zu begreifen. Kurze Zusammenfassung: Es gibt recht teure Müllsäcke, welche für Restmüll gedacht sind. Geld kannst du sparen indem du Blech, Glas und PET Flaschen zu den richtigen Entsorgungsanlagen bringst und dich informierst, wann bei dir Papier Müll, Karton, Sperrmüll von der Müllabfuhr abgeholt wird: https://www.stadt.sg.ch/home/raum-umwelt/abfall-entsorgung/Abfuhrplan.html. Auf diese Art und Weise sparst du dir den Kauf von unnötig vielen teuren Müllsäcken. 

    Koche selber 

    Auswärts essen gehen ist vielleicht entspannend, aber leider sehr teuer. Viel Geld sparen tut man indem man selber kocht. Lebensmittel haben im Vergleich zu den angrenzenden Ländern auch einen höheren Preis, deswegen ist von vielen Studierenden eine beliebte Wochenendaktivität in Konstanz Grosseinkauf zu machen. In St.Gallen kann man ansonsten auch billiger Lebensmittel bei Aldi, Denner oder kleinen arabischen sowie asiatischen Supermärkten einkaufen. 

    Fährst du viel Zug? Hol dir das Halbtax-Abo!

    Für eine Gebühr von 100 CHF pro Jahr kann man sich das Halbtax-Abo kaufen und bekommt alle Tickets für den halben Preis. Sobald man ein bisschen mehr Zug fährt, hat man diese Gebühr schnell wieder drinnen. Ansonsten lohnt es sich auch die SBB App herunterzuladen, da dort immer niedrige Preise für gewisse Strecken angeboten werden: https://www.sbb.ch/de/abos-billette/abonnemente/halbtax.html 

    Nutze die Ermässigungen durch dein Bankkonto 

    Wenn man ein Bankkonto bei einer Schweizer Bank anlegt, bekommt man mit diesen auch alle möglichen Rabatte für Restaurants, Kleidergeschäfte, Printshops, aber auch Dienstleistungen. So habe ich beispielsweise 10% bei meinem letzten Friseurtermin gespart. Es lohnt sich also mal einen Blick auf diese zu werfen. 

  3. Beziehungsstatus Schweiz-EU: Es ist kompliziert

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    Kaum war der politische Schlagabtausch von Moderator Reto Brennwald lanciert, stellte Hans-Peter Portmann (FDP) klar: «Die Beziehung zwischen der Schweiz und der EU stellt für mich keine Liebesbeziehung dar.» Vielmehr handle es sich «nur» um ein Vertragsbündnis. Claudia Friedl (SP) gab sofort Gegensteuer und beteuerte, dass es der Schweiz nur dann gut gehe, wenn es auch der Europäischen Union gut geht. Für Rechtsprofessor Thomas Geiser sind die Bilateralen Verträge mit der EU durchaus mit dem Rechtsinstitut der Ehe vergleichbar. SVP-Nationalrat Lukas Reimann fand hingegen harte Worte: «Die Beziehung zwischen der Schweiz und der EU ist eine Scheinehe.»

    Nach dem ersten Kreuzen der Klingen rückte das hauchdünne Abstimmungsergebnis zur Masseneinwanderungsinitiative (MEI) in den Mittelpunkt. Geiser argumentierte, dass die Bilateralen Verträge von der Stimmbevölkerung im Gegensatz zur MEI nicht mit einem Zufallsmehr, sondern mit Zustimmungen von 60% und mehr angenommen wurden. Von dieser Aussage zeigte sich erstaunlicherweise der FDP-Vertreter stärker angegriffen als SVP-Exponent Reimann. Portmann forderte, dass man endlich vom unredlichen Begriff «Zufallsmehr» wegkommen soll. Mit 56.6% war die Stimmbeteiligung vergleichsweise immens hoch. Zudem sagten zwei Drittel der Stände Ja.

    Mehr als nur Moderator

    Nach einer provokanten Frage des Moderators zum unbefriedigenden Verhandlungsergebnis des Bundesrates holte SP-Nationalrätin Friedl sogleich zur Gegenfrage aus: «Haben Sie denn tatsächlich das Gefühl, dass der Bundesrat bezüglich restriktiver Umsetzung der MEI noch nichts versucht hat?» Nonchalant und mit einem breiten Grinsen bejahte der ehemalige Rundschau- und Arena-Moderator. Mit diesem pointierten Statement vermochte Brennwald beim Publikum gleich reihenweise Sympathiepunkte einzuheimsen.

    Anschliessend stellte Portmann klar, dass er den von seiner Partei initiierte «Inländervorrang light» für Nonsens und «Wischiwaschi-Zeug» hält. Der in dieser Thematik einzige Querschläger seiner Partei ist dezidiert gegen die nationalrätliche Vorlage, da sie innenpolitisch Schaden anrichten würde. Für Reimann ist klar, dass der «Inländervorrang light» nichts Anderes als eine Nullrunde verkörpert. Einzige Folge des Konzepts wäre eine Zunahme der Bürokratie.

    Referendum oder neue Volksinitiative?

    Ein allfälliges Referendum vonseiten der SVP macht für Lukas Reimann in der aktuellen Situation keinen Sinn, da sich seiner Meinung nach ein Referendum nicht gegen den Status Quo richten kann. Portmann vertritt die konträre Ansicht, dass nach einem von der SVP gewonnenen Referendum der Verfassungsartikel ab Februar 2017 in Kraft treten würde – und zwar mit Höchstzahlen und Kontingenten. Dem fügte Lukas Reimann an, dass die von ihm präsidierte AUNS (Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz) früher oder später eine Volksinitiative zur strikten Umsetzung der MEI lancieren wird, falls die SVP den Mut dazu nicht hat.

    Friedl lenkte die Diskussion anschliessend in Richtung «Horizon 2020» und erhoffte sich, damit beim akademischen Publikum zu punkten. Portmann holte bei dieser Thematik aber prompt zum nächsten Gegenschlag aus: Er stellte klar, dass SP-Präsident und Ständerat Christian Levrat die Verknüpfung des Forschungsprogramms mit der Personenfreizügigkeit in einem Bundesbeschluss vorantrieb. Reimann fügte hinzu, dass «Horizon 2020» gefährdet sei, weil mit der Schweiz und Grossbritannien zwei der allerbesten Forschungsländer auf dem Absprung stünden. Dem entgegnete Professor Geiser, dass erfolgreiche Wissenschaft massgeblich von umfassenden Forschungsnetzwerken abhängt.

    Raus aus der Sackgasse

    Thomas Geiser beteuerte, dass er alles andere als ein schlechter Demokrat sei. Mit der im November 2015 zustande gekommenen Initiative will er lediglich dem Volk das letzte Wort geben. Zurzeit ist es am Bundesrat, dem Parlament eine Botschaft zur RASA-Initiative zu unterbreiten. Für Geiser, der kein Politiker ist und dies auch nie sein wollte, ist ein Gegenvorschlag zur Initiative vonseiten des Bundesrates wahrscheinlich. Auch der bürgerliche Portmann anerkannt die Legitimität der RASA-Initiative. Inhaltlich kritisiert er, dass die Initiative den Verfassungsartikel 121a restlos streicht und damit den Bevölkerungswunsch nach einer gemässigten Zuwanderung ignoriert.

    Dann liess sich der schlagfertige Portmann zu einer Aussage hinreissen, die im ziemlich gut gefüllten Audimax für Lacher sorgte: «Ziehen Sie auch bei einem vertretbaren Gegenvorschlag die Initiative nicht zurück, Herr Professor!» Geiser konnte den Zürcher Nationalrat beruhigen, indem er beteuerte, dass ein Rückzug nur unter einer bestimmten Voraussetzung in Frage kommt: Falls feststeht, dass der Gegenvorschlag dem Volk zur Abstimmung unterbreitet wird. Die Stimmbevölkerung wird aller Voraussicht nach in naher Zukunft also noch einmal über die Frage befinden können.

    Rahmenabkommen als Schreckgespenst?

    Zum Abschluss der lebendigen, aber zuweilen etwas zu technischen Diskussion sinnierten die Podiumsteilnehmer über die Zukunft der Beziehung Schweiz-EU. Reimann plädierte darauf, dass ein allfälliges Rahmenabkommen mit der EU keine Option sein darf. Die Schweizer Bevölkerung sei nämlich noch nie so entschieden gegen einen EU-Beitritt gewesen wie heute. Claudia Friedl rief dazu auf, dem Verhältnis zur EU Sorge zu tragen und den Wert der Bilateralen Verträge keinesfalls zu unterschätzen.

    Nach Hans-Peter Portmann besteht die vorläufige beste Taktik darin, Tee zu trinken und abzuwarten. Der Bundesrat sollte seiner Meinung nach die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen sistieren, da die Schweiz momentan nur schlechte Karten ziehen kann. Die Grundwerte der EU werden überleben, jedoch nicht mehr sakrosankt sein. Dann kann die Schweiz wieder in die Verhandlungen einsteigen. Reimann glaubt daran, dass die EFTA eine mögliche Alternative zur EU bilden könnte und «die in Brüssel am Schluss alleine zurückbleiben.»

    Bei der Reflexion über die Zukunft des Euros forderte Thomas Geiser das Publikum schliesslich dazu auf, an der HSG ein Seminar über einen möglichen Austritt eines Staates aus dem Euro auf die Beine zu stellen. Für die zukünftige Entwicklung der Beziehung zwischen der Schweiz und der EU wäre ein umfassendes Paartherapie-Seminar wohl auch keine schlechte Idee…

    Bilder Daniel Bötticher

  4. Die Schweiz und ihr Mythos

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    Der Schweizerische Nationalfeiertag steht vor der Tür und dies zu einer Zeit in welcher der (Wahl)Kampf um die Deutungshoheit über die Schweizer Geschichte und Nationalsymbolik deutlich intensiver geführt wird als in den Jahren zuvor. Die Anzahl Zeitungsinterviews mit Schweizer Historikern ist 2015 um gefühlte 1000 Prozent in die Höhe geschossen. Man sollte sich davon jedoch nicht blenden lassen, in dieser Debatte geht es nur bedingt um die Vergangenheit, viel eher geht es um die Zukunft der Schweiz.

    Das Primat der Politik

    Ein jeder Staat ist bis zu einem gewissen Grad ein künstliches Produkt, die Willensnation Schweiz mit 4 verschiedenen Sprachräumen im Speziellen. Zur Stiftung einer gemeinsamen Identität braucht es einen minimalen Konsens darüber woraus das Gedankenkonstrukt Schweiz überhaupt besteht. Diese „Essenz“ der Schweiz widerspiegelt sich wiederum in der nationalen Symbolik. Die objektive geschichtliche Wahrheit (wenn es denn so etwas gibt) ist bei der nationalen Geschichtsauslegung eher zweitrangig, viel eher folgt sie der „Superhelden-Logik“. Der Superheld gewinnt am (vorläufigen) Ende der Geschichte nicht deshalb weil er der Gute ist. Er ist der Gute weil er (im Machtraum dieser Geschichte) bereits gewonnen hat und somit die Deutungshoheit besitzt. Der Geschichtsunterricht sagt also oft ähnlich viel über den Status Quo wie über die effektive Vergangenheit aus (welche sich im Gegensatz zur Geschichtsschreibung nicht verändert).

    Nehmen wir zum Beispiel die so oft diskutierte vernichtende Niederlage der Eidgenossen bei Marignano. Sie wird heute von konservativen Kreisen als die Geburtsstunde der schweizerischen Neutralität angepriesen. Entdeckt wurde diese Geburt allerdings nicht 1515 sondern erst beinahe 400 Jahre später als dem Deutschen Reich erklärt werden musste, weshalb die Schweiz deutschen Sozialisten Schutz bot. Danach ging Marignano zwischenzeitlich wieder vergessen und die Erinnerung daran wurde erst wieder in den 1960er-Jahren als Antwort auf die wachsende linke Kritik gegenüber der neutralen schweizerischen Aussenpolitik (während dem 2. Weltkrieg) wiederbelebt.

    Bei genauerer Betrachtung verliert die Geschichte meist schnell ihren mythologischen Glanz. Giacobbo / Müller haben etwa gnadenlos in Erinnerung gerufen, dass bei der Schlacht von Moorgarten 1315 nur eine kleine Minderheit der heutigen Schweizer effektiv auf Seite der Eidgenossen gekämpft hat. Als Aargauer (wie der Autor einer ist) spielt man in der Schweizer Geschichte grundsätzlich die Rolle des Bösewichts und umgekehrt ist ein Wilhelm Tell aus einer aargauisch-habsburgischen Perspektive auch nicht wirklich ein Freiheitsheld sondern eher ein Terrorist. Doch ist es am Ende tatsächlich entscheidend auf welcher Seite welche meiner x-ten Urahnen, die ich nie gekannt habe, gekämpft oder nicht gekämpft haben?

     1291 vs. 1648

    In der Schweizer Geschichte stehen sich seit längerem zwei konkurrierende Narrative gegenüber, welche beide als Antwort auf die zunehmende europäische Integration und die damit verbundenen Herausforderungen für die Schweiz zu verstehen sind.

    Das derzeit vorherrschende (und durch die Bestimmung des 1.Augusts als Nationalfeiertag auch offizielle) Paradigma ist jenes der Bürgerlichen und Konservativen, jenes von 1291. Es handelt vom Rütli-Schwur und dem Bundesbrief, der Historisierung des Tell-Mythos, und erzählt von der Schweiz als Hort der Freiheit und der Demokratie, entstanden als Bund gegen die tyrannische Grossmacht. Ergänzt wird die 1291er Version der Schweizer Geschichte mit der Geburt der unabhängigen Neutralität von 1515. Die Schweizerische Volkspartei verpackt gar ihren ganzen Wahlkampf mit dem Wahlspruch „Frei bleiben!“ und dem Maskottchen „Wachhund Willy“ in eine Analogie auf den Schweizer Nationalmythos. Wobei es hierum geht ist klar. Die Schweiz soll ihre Unabhängigkeit und Neutralität wahren in dem sie dem „bösen EU-Vogt“ Paroli bietet und keine Kompetenzen an supranationale Instanzen abgibt.

     Der konkurrierende „linke“ Narrativ setzt die Betonung auf andere Jahresdaten wie etwa auf den Westfälischen Frieden von 1648, bei welchem als Nebenprodukt auch die Souveränität der eidgenössischen Kantone anerkannt und am Wiener Kongress in 1815 bestätigt wurde. In dieser Version der Geschichte sind nicht die Schweizer selbst sondern die europäischen Grossmächte die entscheidenden Akteure. Eine Schweiz deren Schicksal untrennbar mit jenem von Gesamteuropa verbunden ist. Jene Schweiz die selbstverständlich eines Tages der EU beitreten wird.

     Warum der Beziehungsstatus „It’s complicated“ vielleicht gar nicht so schlecht ist

    Alleine schon der Fakt, dass sich der Schweizer Wahl- und Geschichtskampf um die EU dreht, welche übrigens ihr eigenes „Mythos-Problem“ hat, gibt dem 1648er Lager teilweise Recht. Die Schweiz liegt im Herzen Europas, das nächste (noch) Nicht-EU-Land mit mehr als einer Million Einwohnern ist Bosnien. Wenn sich die EU weiter vom Staatenbund zum Bundesstaat entwickeln sollte, wird die Schweiz de facto (sorry Liechtenstein) zur Binnenenklave in der EU. Es gibt heute weltweit nur 3 Binnenstaaten mit nur einer Grenze – Lesotho, San Marino und der Vatikanstadt – alle hochgradig abhängig von dem Land, welches sie umgibt. Ein kompletter Alleingang der Schweiz ist unmöglich, würde aber aufgrund der fortschreitenden Globalisierung ohnehin keinen Sinn ergeben. Viele der heutigen Herausforderungen können nur auf supranationaler oder gar globaler Stufe gelöst werden und so verlockend es auch sein mag sich über „Gurkenregulationen“ der EU lustig zu machen, so sind diese doch immer noch um Längen besser als 28 nationale „Gurkengesetze“.

     Doch müssen wir deswegen der EU beitreten? Nein. Die beste Erklärung der heutigen Situation der Schweiz liegt im Mythos 1291, auf der Metaebene allerdings. Geschrieben hat unser National-Epos Schiller, ein Deutscher, und der glühendste Verfechter der Tell-Schweiz, Christoph Blocher, ist ebenfalls ein Nachkomme deutscher Einwanderer. Dies ist weitaus passender und urschweizerischer als es erscheinen mag. Helvetier sind am Ende nichts Anderes als deutsche Auswanderer, die das gelobte Land suchten und am Ende die Schweiz fanden. Noch wichtiger ist jedoch zu verstehen, dass die Schweiz nicht nur in den Köpfen der Schweizer sondern auch in den Köpfen vieler Europäer und Nicht-Europäer entsteht. Das Modell der Schweiz entsteht aus dem Kontrast zu den drei europäischen Grossmächten, Deutschland, Frankreich und Italien, von der sie umgeben ist. Einst beschützten die Schweizer deren Güter an deren Königshöfen, heute bringen sie ihr Geld (und in Zukunft vielleicht ihre Daten) nach Zürich, Genf oder ins Tessin. Auch das Freihandelsabkommen mit China ist nur möglich weil die Schweiz als neutrales, unabhängiges Land wahrgenommen wird, welches aber gleichzeitig einen Testlauf für die EU darstellt.

    Das ganze gilt nicht nur auf einer ökonomischen Ebene. Die Schweiz war schon Zufluchtsort für eine hohe Zahl an unbequemen europäischen Quergeistern und umgekehrt lebt unser Land auch davon, dass es immer wieder Leute wie Hayek oder Grübel gibt, welche zur „Idee Schweiz“ konvertieren und strammer für ihre Ideale einstehen als so mancher „Eidgenosse“.

     Letzten Endes stellt die europäische Integration für die Schweiz einen pikanten Balanceakt dar: Ein fehlender Kontrast zur EU würde dem Gedankenkonstrukt Schweiz die Grundlage entziehen, eine zu starke Isolation aber ebenfalls. Deshalb lautet die sicherlich nicht einfachste aber wohl dennoch beste Devise für die Schweiz: Weiterwursteln!


     P.S.: Wilhelm Tell selbst scheint von all diesem Geschichts-Hick-Hack nicht viel zu halten und hat sein persönliches Glück ausserhalb von Politik und Revolutionen gefunden. Er hat seine Armbrust mit einer Gitarre ausgetauscht und ist nach Amerika ausgewandert, wo er, mit mässigem Erfolg, Alternative Rock und Pop Punk macht. In seiner letzten EP „Lovers & Haters“ erzählt er in bester Bastian-Baker-Manier die Geschichte von der Liebschaft zwischen dem Landjungen Toni und der Städterin Chantal, welche aufgrund einer jungen libanesischen Asylbewerberin namens Europa arg auf die Probe gestellt wird. Na gut, diese Geschichte entspringt meiner Fantasie, was jedoch wahr ist, dass sich unser Wilhelm die bildhübsche Schauspielerin Lauren Conrad von „The Hills“ unter den Nagel gerissen hat! Darauf kann man als Schweizer doch mindestens so Stolz sein wie darauf, dass vor etwa 500 Jahren etwa 10’000 unserer Vorfahren von Franzosen und Venezianern abgeschlachtet wurden.


     P.P.S.: Ist eigentlich schon einmal jemandem aufgefallen, dass Schiller bei der Namenswahl eine Verwechslung unterlaufen ist? Wilhelm waltet, Walter will Helm!