Jeder kennt diese Posts auf seinem News Feed. Dinge, die einem nicht nur egal sind, sondern einen in Rage versetzen, weil sie wie eine Vergeudung von Energie und Internetspeicherplatz scheinen. Da stehen 1’000 Zeichen lange Statusmeldungen zum allgemeinen Unbefinden, gespickt mit traurigen Smileys und depressiven Songtextzitaten. Nicht zu vergessen die Posts verliebter Pärchen, die sich ewige Liebe schwören und mit Herzchen die Pinnwand verpesten.
Was im realen Leben vielleicht nur eine momentane Gemütsbewegung war und niemanden kümmern würde, wird auf Facebook gross aufgebauscht, gepostet, geshared, geteilt. Ein Seelenstrip wird hingelegt, der in der Realität so gar nicht möglich wäre. Oft steht man sprichwörtlich nackt vor seinen 1’845 Freunden. Doch woher kommt dieser Drang, sich selbst derart in Szene zu setzen? Nach Dr. Johannes Döser ist dieses Bedürfnis, sich selbst und seine Abenteuer darzustellen, ganz natürlich. «Dieser Drang nach Selbstdarstellung ist so alt wie die Menschheit selbst – bereits bei den ersten Höhlenzeichnungen liess sich ein solcher feststellen. Auch die gegenseitigen Liebesbekundungen sind nichts Neues. Schliesslich ritzte man schon in Burgmauern den Namen seiner Liebsten oder sprayte an Autobahnbrücken «Hans und Karla für immer». Kein Wunder also, dass regelmässig Profilbilder, Statusmeldungen und Fotoalben erstellt, geändert und aktualisiert werden. Man schafft sich eine Persona und experimentiert damit, es kann aber auch auf ein «narzisstisches Sich-im-Kreis-Drehen» hinauslaufen, so Allan Guggenbühl. Social Media ist perfekt dazu geeignet, verschiedene «Ichs» auszuprobieren und an den Reaktionen der anderen zu erkennen, ob dieses «Ich» akzeptiert oder missachtet wird.
Dass das «Facebook-Ich» nur eine Maske ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass niemand bei einem Jobinterview oder einem ersten Kennenlernen all die betrunkenen Bilder der letzten Nacht von sich zeigen würde, im besten Fall noch mit lustigen Kommentaren versehen. Wenn schon das ganze Leben gepostet wird, sollten zumindest die Sicherheitseinstellungen stimmen – Freunde von Freunden alles sehen zu lassen, ist, insbesondere wenn man ein breitgefächertes Netzwerk hat, keine gute Idee. Dies sieht auch Guggenbühl so: Viele in unserem Alter gehen zu naiv an das ganze Thema heran und sind zu freizügig mit dem Teilen privater Inhalte. Da Facebook keinen persönlichen Kontakt zu anderen herstellt, wiegt man sich in der Illusion, weniger angreifbar zu sein. Definierte Intimgrenzen werden überschritten – nie würde man nur in Unterwäsche rumlaufen, auf Facebook jedoch darf die ganze Welt den neuen BH begutachten. Allerdings sieht Guggenbühl neben der Möglichkeit, mit seiner Identität zu spielen, auch die Chance, dass besonders introvertierte Menschen leichter in Kontakt mit anderen treten können. Dies kann ihnen helfen, sich als Teil der Gesellschaft zu sehen, wobei dieses Mitteilungsbedürfnis auch schwerwiegende Folgen haben kann. Mobbing und der Verlust von Freunden ist, sofern die angesprochene Peer-Group nicht genauso handelt, nicht auszuschliessen. Gefährlich wird es dann, wenn man anfängt, mit völlig Fremden Kontakt aufzunehmen. Ein solches Verhalten dient meist als Ersatzbefriedigung dafür, dass man im realen Leben nicht fähig ist, neue Beziehungen aufzubauen.
Und was ist mit diesen ganzen depressiven Statusmeldungen, die beschreiben, wie schlecht es einem gerade geht? Guggenbühl sieht darin durchaus eine therapeutische Wirkung, zumindest in dem Sinne, dass «Probleme in einem grösseren Rahmen geteilt und diskutiert werden können». Dieses Teilen von Informationen kann jedoch dann problematisch werden, wenn sich andere Leute dadurch gestört fühlen, wie wir bei einem Selbstversuch erkennen konnten. Nachdem wir, zumindest Joana, das Projekt «Für 24 Stunden poste ich alles nur Erdenkliche auf Facebook» gestartet hatten, liessen die bösen Kommentare nicht lange auf sich warten: «Hör auf zu posten» und «thx 4 sharing» waren nur zwei von vielen doch eher kritischen Bemerkungen, die sich an die belanglosen Statusmeldungen richteten. Aber wer will auch wissen, wann jemand sein Päckchen bei der Post abholt, mit wem er isst und wann er sich schminkt. Auch interessant zu erwähnen war der Verlust von sage und schreibe 10 Freunden (OMG!!) innerhalb eines Tages. Es lässt sich somit nur erahnen, welche weiteren Auswirkungen weiteres wildes Posten von Statusmeldungen auf die Beziehung zu Facebookfreunden gehabt hätte.
Die Möglichkeit, Facebook dazu zu nutzen, seine Identität zu stärken und sich selbst zu finden, hat somit nur geringen Erfolg. Viel erfolgsversprechender, so Döser, ist «der direkte Austausch mit Freunden» und Verwandten und die Auseinandersetzung mit den damit verbundenen sichtbaren, sofort erfolgenden Reaktionen, die nicht längere Zeit durchdacht werden können und somit unverfälscht sind. Facebook schafft es somit nicht, den Status eines Individuums innerhalb einer Gemeinschaft zu verbessern, obwohl dies fälschlicherweise angenommen wird. Aufgrund dieser Falschannahme greifen trotzdem viele auf Facebook zurück. Sie wollen gehört werden. Sie wollen beeinflussen. Und sie wollen Anerkennung erfahren. Ein anderer einleuchtender Grund, der das rege Treiben auf Facebook erklären könnte, ist die Angst vor dem Alleinsein. «An keinem Menschen geht die kränkende Erfahrung vorbei, nicht überall dabei sein zu können, auch mal ausgeschlossen zu werden», weiss Döser. Somit könnte man das eigene Mitteilungsbedürfnis als einen hilflosen Versuch, nicht in Vergessenheit zu geraten, verstehen. Den tiefgreifenden Effekt des Alleinseins möchte niemand durchleben müssen. Der Mensch als soziales Wesen ist nicht dafür gemacht, allein zu sein. Somit scheint es für viele ganz natürlich, sich ohne Schutzschild, also so gut wie nackt, auf Facebook zu präsentieren. Hauptsache, die Aufmerksamkeit anderer ist gesichert.
Dr. med. Johannes Döser ist Arzt, Psychiater & Psychotherapeut, Kinder- & Jugendpsychiater, Psychosom. Med. & Psychotherapeut, praktiziert in Essen, NRW, Deutschland.
Allan Guggenbühl ist ein renommierter Schweizer Psychologe und Experte für Jugendgewalt, er praktiziert am Institut für Konfliktmanagement (IKM) in Zürich.
An dieser Stelle werden wir es aber nicht beim Verzicht auf Fleisch (Vegetarismus) bewenden lassen, sondern vom Veganismus sprechen, der Lebensweise ohne Konsum jeglicher tierischer Produkte. Das hat einen einfachen Grund: Die Argumente wider dem Fleischkonsum gelten gleichermassen für andere tierische Erzeugnisse wie Milch und Eier.
Dank Studien von der UNO und dem unabhängigen Worldwatch Institute aus Washington ist längst unbestritten, dass die Produktion von Nahrungsmitteln tierischen Ursprungs mehr CO2-Ausstoss verursacht als der gesamte globale Verkehr; nicht zu sprechen vom um ein Vielfaches schädlicheren Methan, das etwa Milchkühe in grossen Mengen ausstossen. Dazu kommt die enorme Ressourcenverschwendung der Fleischproduktion: Während die Herstellung von einem Kilogramm Weizen 1300 Liter Wasser erfordert, sind es für ein Kilogramm Rindfleisch ganze 15’000 Liter. Zur Veranschaulichung: Damit duscht ein durchschnittlicher Schweizer ein Jahr lang. Überdies ist die ineffiziente Umwandlung von Pflanzen in Fleisch (durchschnittlich 10 Kilogramm Mais, Soja etc. für ein Kilogramm Fleisch) mitverantwortlich für den täglichen Hungertod Tausender. Und nein, der Welthunger ist nicht nur ein Verteilungsproblem, wie mir viele ökonomisch gebildete HSGler entgegenhalten werden. Denn es ist die enorme Nachfrage nach pflanzlicher Nahrung zur Mästung der Nutztiere, welche den Weltmarktpreis für diese Güter in unnatürliche Höhen treibt und für die Ärmsten unerschwinglich macht.
Klar ist auch, dass sich diese Probleme mit zunehmender Weltbevölkerung noch verschärfen werden. Kein Wunder also, propagiert die UNO in einem Bericht von 2010 den Schritt zur veganen Ernährungsweise. Wäre das aber nicht ungesund, so gar kein Fleisch und keine Milch?
Beide Aussprüche verdanken wir der Werbeindustrie. Halten sie aber auch einer wissenschaftlichen Betrachtung stand? Milch ist richtigerweise bekannt für ihren Calciumgehalt, doch kann der Körper Calcium nicht verarbeiten, wenn er es in Kombination mit tierischem Eiweiss verabreicht erhält – und scheidet es demzufolge wieder aus. Damit ist Milch einer der Risikofaktoren für Osteoporose, auch bekannt als Knochenschwund. Cornell-Professor Colin Campbell weist in seiner «China Study» auf weitere weit verbreitete Fehlannahmen hin: Auch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen (mit 36 Prozent die häufigste Todesursache in der Schweiz), Diabetes und Krebs wird durch den Konsum tierischer Produkte erwiesenermassen erhöht.
Ein weiterer Mythos ist die Rede von Mangelerscheinungen bei veganer Ernährungsweise. Dass auch dieser Vorwurf keineswegs einer gesicherten Erkenntnis entpringt, wissen wir dank der American Dietetic Association. Ihre Studie zu vegetarischen Ernährungsformen, die auf den Ergebnissen von Untersuchungen von 70’000 Wissenschaftlern basiert und als derzeitiger Stand der Forschung gilt, kommt zum Schluss, dass gut geplanter Veganismus für alle Stadien menschlichen Lebens (inklusive Schwangerschaft und früher Kindheit) angemessen ist und Gesundheitsvorteile bietet.
Klima- wie auch Gesundheitsargumente sprechen also für eine Reduktion unseres Konsums tierischer Produkte. Eine Frage erspart uns diese ganze Diskussion dennoch nicht: Dürfen wir überhaupt Tiere töten, wenn es doch für uns nicht von überlebensnotwendiger Wichtigkeit ist, sondern blosser Luxus? Wie ist es zu rechtfertigen, dass wir Menschen ein Recht für Unversehrtheit zugestehen, während ein Hühnchen gerade mal das Recht geniesst, durch ein elektrisches Bad gezogen zu werden, bevor ihm die Kehle durchgeschnitten wird?
Diese Frage stellt sich übrigens für Vegetarier genauso wie für Fleischesser. Wer etwa Eier konsumiert, verantwortet auch mit, dass täglich tausende männliche Küken direkt nach dem Schlüpfen vergast werden, da sich ihre
Eine erste Antwort wäre: «Die Frage ist mir völlig egal, denn es schmeckt einfach so gut!» Wer sich derart wenig um die Folgen und Gründe seines Tuns schert, kann sich den Rest dieses Artikels getrost sparen. Die meisten aber rechtfertigen das Verspeisen von Tierleichen mit den zwei folgenden Argumenten:
Hierbei handelt es sich streng genommen gar nicht um ein ethisches Argument. Was ist, spielt schlicht keine Rolle für das, was sein soll. Schliesslich tun wir eine ganze Menge höchst unnatürlicher Dinge, eben weil es oft das ethisch Gebotene ist: So öffnen wir etwa Kranken den Bauch, um ihnen eine Spenderniere einzusetzen, anstatt sie naturgemäss sterben zu lassen. Ganz zu schweigen davon, dass angesichts des verbreiteten Einsatzes von Antibiotika auch auf Bio-Höfen von «Natürlichkeit» keine Rede sein kann.
Oft wird vorgetragen, Menschen besässen höhere kognitive Fähigkeiten als die anderen Tiere und seien deshalb schützenswerter. Ersteres ist unbestritten. Doch es wird schnell klar, wieso das nicht von ethischer Relevanz sein kann: Ein Schwein etwa ist intelligenter als Säuglinge. Wenn das also das Unterscheidungskriterium sein soll, können sich Fleischesser getrost auch Menschenfleisch gönnen, solange es aus säuglingsgerechter Haltung stammt. Schliesslich ist es ebenjenes Fleischesser-Argument, welches die genannten Menschengruppen mit einigen Tierarten auf dieselbe Stufe stellt.
Noch trivialer ist es, die Minderwertigkeit der Tiere mit der vom Menschen abweichenden äusserlichen Gestalt zu begründen. Das erinnert unweigerlich an ein dunkles Kapitel der Geschichte, die Sklaverei. Bereits zu deren Blütezeit hat Jeremy Bentham die Analogie erkannt: «The French have already discovered that the blackness of the skin is no reason why a human being should be abandoned without redress to the caprice of a tormentor. It may one day come to be recognised that the number of legs, the villosity of the skin or the termination of the os sacrum, are reasons equally insufficient for abandoning a sensitive being to the same fate.» Dieser Tag ist überfällig.
Nackt kommen wir auf die Welt. Physisch, wie auch psychisch. Von diesen Zeitpunkt an vergehen die Jahre; die Nacktheit verschwindet. Während Kleidung unsere äussere Erscheinung bedeckt, ersetzten unsere Erziehung und unser Umfeld in einem stetigen Prozess die innere Nacktheit. Wertvorstellungen treten an die Stelle des ungeformten Charakters und bilden den eigenen Horizont heraus. Die eigene Kultur prägt das Individuum und wird gleichzeitig Teil von ihr.
Und derer Kulturen gibt es viele, welche im Rahmen der Globalisierung ständig aufeinander treffen. Man hat Freunde auf der ganzen Welt, arbeitet später höchstwahrscheinlich auf globaler Ebene. Es ist nötig, und darüber hinaus auch wunderbar spannend, mit fremden Kulturen umzugehen.
Hin und wieder führt das zu einem individuellen Phänomen: Der eigene Werterahmen ist einfach nicht mehr anwendbar und man fühlt sich nackt und hilflos. Dieses Phänomen kann man mit Wissen zu umgehen versuchen. Man analysiert und eignet sich die Besonderheiten und kulturellen Eigenheiten in Seminaren, Büchern und Erzählungen an, um ja jeden Fauxpas zu umgehen und nicht den Eindruck eines Fremden zu erwecken. Das funktioniert wunderbar, wenn es authentisch ist; wenn nicht, kann es eher peinlich werden. Denn Kultur ist Erlebens- und Erfahrensangelegenheit, und kein KKarten-Stoff.
Diese Lehre zog ich jedenfalls aus einer Südost-Asien Reise. Vorbereitung schön und gut, doch die Erfahrung sieht anders aus. Das Abenteuer begann in Bangkok und endete für meinen Reisegefährten und mich bereits nach wenigen Tagen in einer thailändischen Polizeistation, weil ein Reiseveranstalter uns um einen dreistelligen Betrag geprellt hatte. Tja, soviel zur Vorbereitung.
Der Polizeibeamte war die Ruhe in Person. Ganz dem von Reiseagenturen beschworenen «Land des Lächeln»-Klischees. Wir waren leicht überfordert mit der Kommunikation, dank Sprachschwierigkeiten und sonstigen Ungewissheiten über kulturelle Gepflogenheiten. Um die eingangs geschilderte These aufzugreifen: wir fühlten uns hilflos, irgendwie nackt. Plötzlich erschienen uns die «wertvollen» Mahnungen von Lonely Planet und Stefan Loose im Hinterkopf: Ruhig bleiben, auf keinen Fall das Gesicht verliehen. Keine Emotionen. Immer lachen. So führten wir das Gespräch und es geschah, zu unserem Entsetzen wieder nichts. Schlussendlich begannen wir mit wachsender Verzweiflung, einfach ohne besondere Beachtung unser Problem darzulegen. Freundlich, tolerant, aber sicher nicht der thailändischen Kultur entsprechend. Die Reiseführer hätten unser Verhalten wahrscheinlich als typisches Kulturbanausenverhalten tunlichst zu vermeiden empfohlen. Doch wider Erwarten fruchtete dieses Verhalten und wir wurden uns einig.
Was war geschehen? Wir versuchten unsere Nacktheit mit schwammig angelesenem Wissen zu überdecken. Klappte nicht, wirkte wahrscheinlich eher ein wenig lächerlich. Denn der Reiz am Aufeinandertreffen der Kulturen liegt am Unterschied. Mit Toleranz, Offenheit und Ehrlichkeit kommt man bisweilen weiter als mit dem blossen repetieren von angelesenen Kenntnissen. Um in der Kleidungsmetapher zu bleiben: Nackt ist man nie. Die Kleidung hat vielleicht nur einen anderen Stil.
Ein weiterer Zwischenfall bestätigt darüber hinaus, dass manche Missverstände selbst bei Mühe unvermeidlich sind. Natürlich könnte man dies in einem perfekten Umfeld voller gegenseitiger Toleranz umgehen, realistisch war das jedoch eher selten der Fall.
In Chiang Mai trafen wir zwei Freundinnen, die an der dortigen Universität Deutsch studieren. Bekannt waren sie uns von ihrem einjährigen Sprachaufenthalt in unserer Region. Wunderbarerweise boten sie sich als Fremdenführer an. Denn es ist Fakt, dass einem dadurch eine Perspektive auf die Kultur, das Land, die Leute zuteil wird, die einem als normaler Tourist entgeht. Dankbar nahmen wir diese Perspektive an und liessen uns die Gegend zeigen.
Doch während dem Trip, bei dem sie uns das «echte» thailändische Leben näher brachten, viel etwas auf: Wir wurden zunehmend unfreundlicher behandelt. Das ging von finsteren Blicken im Restaurant, über aggressive Strassenhändler, bis hin zu beleidigt endenden Songthaews-Fahrer (rote Pickup Busse, die quer durch die Stadt fahren). Es verwunderte uns. Natürlich machte man bereits vorher Erfahrung mit weniger freundlichen Gestalten, doch da waren es Ausnahmen, hier schon beinahe zur Normalzustand. Wir waren verwirrt, welchen Lapsus wir die plötzliche Sinneswandlung der thailändischen Bevölkerung zu verdanken hatten. Waren wir in irgendeiner Weise unfreundlich gewesen? Wohl kaum, die Abneigung traf uns teils schon, bevor wir überhaupt die Gelegenheit dazu gehabt hätten. Die Aufklärung lieferten dann unsere beiden Bekannten, die zerknirscht und irgendwie peinlich berührt zugaben, dass es wohl an ihrer Gesellschaft lag – also an uns.
Wenn man sich ein Gros der alljährlichen Thailand-Touristen anschaut, dann sind greise Männer, die sich ein restliches bisschen Leben bewahren wollen und als einziges Mittel den Sex mit Prostituierten sehen, leider keine Seltenheit. Das beschränkt sich nicht nur auf ältere Männer: «Sextouristen» sind allgegenwärtige Elemente in der Tourismusregion. Ihre Beliebtheit bei der indigenen Bevölkerung ist hingegen weniger fest verwurzelt; sie sind, verständlicherweise, regelrecht verhasst.
Sobald eine Thailänderin in Begleitung eines westlich Aussehendengesichtet wird, kann es sein, dass eben diese Tatsache damit verknüpft wird. Wahrscheinlich mag es in vielen Fällen auch zutreffen. In unserem jedenfalls tat es das nicht.
So war es irgendwie traurig, und auch irgendwie weniger schmeichelhaft für uns, doch unsere Gastgeberinnen fühlten sich weitaus unangenehmer berührt deswegen.
Auch aus dieser Begebenheit bleibt eine Lehre zurück. Manchmal stimmt einfach der Werterahmen nicht mit der Realität überein. Wenn es der eigene ist, sollte man innehalten und überlegen, wenn man dagegen damit konfrontiert wird, hilft wohl nur lächeln. Eine bessere Alternative ist uns jedenfalls nicht eingefallen.
The shower can have at most one occupant, except in the event of an attack by water soluble aliens», «if one friend gets invited to go swimming at Bill Gate’s house he will take the other friend to accompany him». Das WG-Zusammenleben von Sheldon und Leonard in der TV-Serie «Big Bang Theory» ist in ihrem Roommate Agreement aufs Genauste geregelt. Regelungen für den Fall, in dem einer der Mitbewohner zum Zombie mutiert, sind zwar wahrscheinlich genauso wenig in den meisten Studierenden-WG-Reglementen enthalten wie eine exakte Beschreibung der Wohngemeinschaftsflagge (goldener Löwe auf hellblauem Hintergrund). Dennoch haben wohl die meisten funktionierenden WGs Regeln aufgestellt, welche dem dieser Art des Wohnens inhärenten Chaos versuchen, Einhalt zu gebieten. Doch nicht nur rein organisatorische Chaos-Prävention sollte für das Funktionieren einer Wohngemeinschaft betrieben werden. Denn das Wort «Privatsphäre» nimmt plötzlich eine andere Bedeutung an, wenn man mit mehreren, anfangs fremden Leuten das Badezimmer teilt. Zwar haben die beiden TV-Physiker gewisse Aspekte von Privatsphärenschutz im Roommate Agreement festgehalten («The right to bathroom privacy is suspended in the event of force majeure», «There has to be a 24-hour notice if a non-related female will stay over night»). Jedoch wird eine Frage ausgespart, die wahrscheinlich in den wenigsten WGs explizit nicht geregelt ist, implizit dafür aber umso mehr: Wie nackt ist in den geteilten Wohnungsteilen zu nackt?
Die von mir befragten HSG-WGs sind in dieser Hinsicht tatsächlich eher konservativ. «Wenn einer nackt rumlaufen würde, wär das schon ziemlich schockierend! Also mindestens Unterwäsche muss man bei uns tragen», meint ein Mitglied einer Drei-Männer-WG, welche sich schon seit längerem kennt. Ähnliches berichtet eine Zwei-Frauen-Zwei-Männer-Wohngemeinschaft. Auch bei mir zu Hause, einer reinen Frauen-WG, wird nicht blankgezogen. Wieso haben wir so viel Hemmungen diesbezüglich, und das gegenüber Leuten, mit denen wir unsere Wohnung, unser Badezimmer, unser Essen und unser Privatleben (gewollt oder durch dünne Wände bedingt) teilen?
Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel einer 6er-Nudisten-WG in Zürich, welche gerade im Internet einen neuen Mitbewohner sucht (« […] suchen männlichen Mitbewohner, der auch Anhänger der Freikörperkultur ist […] Ohne zweideutige Hintergedanken oder sex. Interessen! Bitte nur ernsthafte Bewerbungen mit aussagekräftigem Schreiben und entsprechendem Foto für den ersten Eindruck, natürlich bitte ohne Klamotten!»). Dies ist zweifelsohne ein eher extremes Beispiel, bei dem die Nacktheit zur Lebenseinstellung gehört und das deshalb in dieser Hinsicht eher schlecht mit «normalen» Studentenwohngemeinschaften verglichen werden kann. Was dieses Beispiel aber aufzeigt, ist die Grundeinstellung, welcher wahrscheinlich auch die Scheu gegenüber Mitbewohnern zugrunde liegt. Ich finde zwar, dass jeder tun und lassen soll, was er will, solange dabei niemand zu Schaden kommt. Aber für mich persönlich hört sich das Konzept einer Nudisten-WG irgendwie «falsch» an; es «gehört sich nicht», nackt vor mehr oder weniger fremden Leuten zu sein, zu leben. Bin ich einfach eine hoffnungslose Spiesserin? Wurde ich so erzogen? Ist eine solche Einstellung kulturbedingt?
Wahrscheinlich hat jeder im alten Familienfotoalbum das eine oder andere vergilbte Foto, auf dem das kleinkindliche Selbst – selbstverständlich splitternackt – in einer Badewanne sitzt und fröhlich mit Schaum und Quietscheentchen spielt. Nacktfotos? Ist das Pornografie? Schämt man sich für ein solches Foto von sich selbst? Natürlich nicht. Ein kleines Kind hat einerseits noch nicht das Bewusstsein, um zu realisieren, dass es «nackt» ist, aber vor allem wird die Nacktheit eines Kindes nicht mit Sexualität in Verbindung gebracht. Als Kind verspürt man erst mal auf die eigene Nacktheit bezogen kein Schamgefühl – das kommt erst später, und zwar mit der Erkenntnis, dass Nacktsein in unserer Gesellschaft nahezu immer mit einer sexuellen Konnotation behaftet ist. Nur in wenigen Situationen der heutigen Gesellschaft ist diese Verbindung zwischen Nacktheit und Sexualität mehr oder weniger aufgehoben, beispielsweise bei einem Arztbesuch, bei Aktmalerei oder in der Kunst allgemein, oder in Umkleideräumen in Schwimmbädern. Wobei dies natürlich von Land zu Land und von Kultur zu Kultur unterschiedlich sein kann. Während man in der Schweiz einen Besuch in der öffentlichen Sauna noch knapp dazu zählen kann, ist dies zum Beispiel andernorts definitiv nicht möglich.
Wieso Nacktheit im Kontext einer Wohngemeinschaft ein eher schwieriges Thema ist, lässt sich somit leicht erkennen: eine studentische, platonische Wohngemeinschaft sollte kein sexuell konnotiertes Umfeld sein – Nacktheit, da diese eben gerade ein solches implizieren würde, ist da weitestgehend fehl am Platz. Funktionieren würde das nur, wenn alle Beteiligten sich von diesen gesellschaftlichen Einflüssen lösen und ihr unschuldiges Kindheitsverständnis vom Nacktsein wiedererlangen würden. In der Anzeige für die Nudisten-WG steht ja dazu treffend: «Ohne zweideutige Hintergedanken oder sex. Interessen!»
Wer von zu Hause bei den Eltern gewohnt ist, Nacktheit nicht zwingend verstecken zu müssen, wird diesem Thema wahrscheinlich auch in einer WG eher liberal gesinnt sein. Doch obwohl eine WG im Idealfall schon so vertraut sein könnte wie das Familienzuhause, gibt es einige offensichtliche Unterschiede; Mitbewohner sind halt eben einfach Mitbewohner und keine Blutsverwandte. Ausserdem bleibt offen, wie viele Leute, Kinder einmal ausgenommen, im Familienzuhause tatsächlich so locker mit Nacktheit umgehen.
Aber schlussendlich bleiben solche Regelungen – auch solche betreffend WG-Flaggen und wasserlöslicher Ausserirdischer – jeder Wohngemeinschaft selbst überlassen. Ob explizit wie in der Nudisten-WG oder implizit-diskret.
Seine Arbeit wird von uns so wenig wertgeschätzt, wie sie vom gewöhnlichen Studenten während unseres Alltages an der Universität St. Gallen wahrgenommen wird. Dass sie von uns kaum wahrgenommen wird, ist wohl, es mag widersprüchlich klingen, das grösste Lob, das man ihm aussprechen kann. Unser Campus erscheint uns von Natur aus sauber und aufgeräumt – alles steht an seinem wohldefinierten Platz; funktioniert auf unserem Campus etwas nicht oder wird irgendwo seine Hilfe benötigt, man kann man stets auf ihn zählen. Der uns selbstverständlich erscheinende Naturzustand ist ein Dauerzustand, wir kennen die HSG nicht anders. Die Sorgfalt und Hingabe, mit der sich die Männer und Frauen des Hausdienstes in ihren unverkennbaren blauen Hemden ihrer Arbeit widmen, soll eine kleine Anekdote aus der diesjährigen Lernphase verdeutlichen: Geplagt von der bedrückenden Atmosphäre in der Bibliothek, verlasse ich jene mit einem Stapel KKarten, um diese zu lernen und begebe mich dazu zu den Tischen und Stühlen am oberen Eingang des Audimax, die umringt sind von den silber-glänzenden Geländern. Kurze Zeit später beginnt ein Mitarbeiter des Hausdienstes diesen Teil des Gebäudes sauber zu machen und die von uns hinterlassenen Müllreste zu beseitigen. Die beeindruckende Szene ist jedoch die, in der er damit beginnt, jede einzelne Stange des Geländers einzeln zu wischen und zu putzen, bis sie ihm sauber erscheint. Wahrscheinlich haben wenige von uns diese Geländer je berührt, geschweige denn benutzt, so dass sie Anlass zum Putzen gegeben hätten.
Diese gewissenhafte Arbeit verdient Respekt und sollte daher zumindest hier auch einmal von uns Studierenden gewürdigt werden.
Nacktsein provoziert. Dessen war sich auch unsere Redaktion durchaus bewusst, als wir uns für dieses Thema entschieden haben. «Nackt» – ein Wort, das Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ständig verschieben sich die Grenzen dessen, was anstössig ist, und wir fragen uns: Ab wann provoziert Nacktheit und was genau provoziert daran? Warum haben manche Menschen Probleme mit ihrer Nacktheit und andere gehen ganz entspannt damit um?
Spätestens seit unserem Rausschmiss aus dem Paradies sind wir uns unserer Nacktheit bewusst und schämen uns. Bewusstsein und Verstand waren der Fluch, mit dem der Biss in den Apfel geahndet wurde. Jedenfalls aus einer christlichen Perspektive heraus betrachtet.
Der nackte Körper fasziniert seit jeher und ist zum Lieblingsmotiv vieler Künstler geworden. Zeit- und kulturübergreifend, wohlgemerkt. Nackt, das bedeutet zweifelsfrei in jeder Gesellschaft, in jeder Zeit und nicht zuletzt für jeden Einzelnen von uns immer wieder etwas anderes.
Sich vor den Mitbewohnern oder gar den eigenen Eltern nackt zeigen? Für die einen gar kein Problem, für die anderen unvorstellbar. In unserem WG-Report unterhielt sich prisma mit Studierenden an der HSG über die Frage, wie nackt eigentlich zu nackt ist und ab welchem Kleidungsstück weniger die Toleranz- oder Schamgrenze überschritten ist.
Neben dem physischen Naturzustand unseres Körpers gibt es noch einen weiteren Aspekt: die emotionale Entblössung. Facebook & Co. haben zusammen mehr Daten als jedes Einwohneramt. Bewusst oder unbewusst geben wir auf sozialen Plattformen tagtäglich unsere Vorlieben preis. Mit dieser Form des Nacktseins scheinen wiederum nur die wenigsten von uns ein Problem zu haben. Eine unserer Redaktorinnen wagte den Selbstversuch und berichtet ab Seite 34 über ihre Erfahrungen, die sie während einer 24-stündigen Nacktwanderung durch das Internet gesammelt hat.
Viel Spass beim Lesen!
Welcher HSG-Student kennt es nicht: das ServicePortal-Dick-icht, in dem man sich unweigerlich verheddert, wenn man nur seine Noten anschauen will. Die StudyNet-Lianen, mit denen man sich durch den Kurs-Dschungel schwingt. Und dann ist da noch die Höhle von Lotus, in der man in der Dunkelheit nach Notes sucht. Man kommt schnell zum Schluss, es wäre alles wild in diesem Wald. Doch das Ressort Informatik der Universität St. Gallen macht seinen Job als Förster – auch wenn sich Programmierer selten dem Sonnenlicht stellen und ihre neuesten Kreationen von Studierenden bestaunen lassen.
Manchmal gibt es aber solche Momente, in denen Dinge wie der Kalender-Export und andere praktische Tools entstehen. Die ganz grossen Würfe sieht man jedoch selten oder bemerkt sie als Studierender kaum, denn ein Wald verändert sich bekanntlich nur langsam und schrittweise. Man ist als Durchschnitts-student schliesslich nur einige wenige Jahre hier, und so nimmt man das, was man von Anfang an im Software-Wald der HSG erlebt, als naturgegeben hin.
Nun steht aber ein Evolutionsschub in der Waldflora an und dieser soll nicht unbeleuchtet bleiben. Die HSG will ein altes Kraut, das Lotus, aus dem Software-Wald verbannen und durch neue, leistungsstärkere, resistentere und modernere Pflanzen ersetzen. So hat man aus dem Nachbarwald die Office-365-Blume verpflanzt, die mit Wohlwollen durch den Gärtner Microsoft gezüchtet wird und zukünftig die E-Mails von Studierenden beherbergen soll. Mit vielen kleinen, aber feinen Details zieht sie die Aufmerksamkeit auf sich, wie der automatischen Synchronisation von E-Mails und Kalendern mit Smartphones, Macs und PCs, gegen die das Lotus-Kraut harte Resistenzen zeigte. Sofern die Häuptlinge des Uni-Waldes im Juni ihr «Hugh» zur Zustimmung geben, kann das zarte Pflänzchen voraussichtlich sogar schon im Herbstsemster 2012 geerntet werden. Leider muss sich jeder dann selbst als Gärtner betätigen, um seine eigene Office-365-Blume zu säen – aber sogar ohne grünen Daumen sollte das kein Problem sein und wenn wir alle mitanpacken, hat das Lotus-Kraut keine Chance.
Hat man als Studierender dennoch Probleme, sein Gärtchen zu pflegen, gibt es noch das berühmt-berüchtigte 01-U207-Dorf. Hier verstecken sich die PC-Tutoren, die, falls dann doch gefunden, mit Hingabe helfen. Man sieht jetzt auch immer öfter die HSG-Förster, die dem Beispiel des myunisg.ch-Pfads folgen und eigene neue Routen durch das Dickicht schlagen. Das Ressort Informatik der Universität St. Gallen hat an dieser Stelle einiges geleistet – obgleich bisher versäumt wurde, die Lorbeeren zu ernten: Das Intranet für Studierende stellt in Zukunft endgültig ein Revier im Wald dar, das nur Studierende betreten dürfen. Ferner helfen diverse Linksammlungen schneller an die Lichtung zu kommen, die wir suchen.
Ein Hinweis an die Ressort-Informatik-Förster, die sich um den HSG-Software-Wald kümmern, sei dennoch angebracht: Über den Baumkronen steigen immer viele verschiedene Rauchzeichen empor und man weiss als Student nicht recht, an wen man sich schlussendlich wenden soll, um die entscheidenden Signale mitzubekommen. Viele Lagerfeuer produzieren ja bekanntlich viele Zeichen, aber auch eine Menge Rauch. Als einfacher Waldbewohner und Student wünscht man sich vielmehr ein eindeutiges und verlässliches Rauchzeichen, um über neue Gefahren im Software-Wald oder wichtige Ankündigungen der Verwaltungs-Indianer informiert zu werden.
Die Gerüchteküchen im Vereinswesen der HSG laufen einmal mehr besonders heiss: Stein des Anstosses ist die angebliche Gründung eines Nacktwandervereins an der HSG. Unter dem Namen «derrières sans frontières» möchte man freizügigen Geistern an der Universität St. Gallen eine Plattform für Austausch und gemeinsame Unternehmungen bieten. In Kooperation mit dem studentischen Kunstverein an der HSG sollen dann auch bald erste Kunstführungen in Reinkultur auf dem Unigelände organisiert werden; laut einem Insider befindet sich der Vereinsvorstand noch in den Verhandlungen mit dem Hausdienst, der zu den heimlichen Förderern des neu entstandenen Vereins gehören soll. Einige Probleme ergaben sich aber mit dem Bibliothekspersonal, das sich vehement weigerte, Nacktwanderer in ihre heiligen Hallen einzulassen. Man habe sich jedoch darauf geeinigt, dass den Nudisten ausserhalb der Öffnungszeiten, und aus hygienischen Gründen natürlich nur mit einer Biblio-theks-Plastiktüte bekleidet, ein Zeitfenster für die FKK-Kunstführung zur Verfügung gestellt werden soll. Doch auch viele weitere Programmpunkte erfreuen (künftige) FKK-Kapitalisten: Der junge Verein organisiert ganzjährig verschiedene Wanderungen in der Schweiz und im näheren Ausland. Für besonders Hartgesottene bietet sich der Trip in den Appenzeller Alpstein an, wo die Liebhaber der Freikörperkultur gejagt von Einheimischen und Behörden den besonderen Adrenalinkick in einem Überlebenscamp wortwörtlich hautnah erleben können. Damit nicht nur hüllenlose Alpinisten auf ihre Kosten kommen, sind weitere Nacktsportarten in Planung, denkbar wäre beispielsweise ein Parallelangebot zum Unisport. Für weitere Highlights sollen verschiedene Flashmobs rund um die Universität sorgen, die nebenbei für geschicktes Marketing genutzt werden. Man munkelt, dass das Präsidium bereits mit einigen ästhetisch ansprechenden Individuen unter den Studierenden im Gespräch sei.
Wir befinden uns in einer Zeit, in der das Ideal der Demokratie weltweit zunehmend an Bedeutung gewinnt, in der über Jahrzehnte beständige Staatsstrukturen sich innert kürzester Zeit transformieren, in der Menschen für ihr Mitspracherecht auf die Strasse gehen und bisweilen ihr Leben dafür lassen. Als Beispiel par excellence für eine gelebte und nahezu maximal ausgestaltete Demokratie wird seit jeher die Schweiz angesehen. Nichtsdestotrotz weist auch der Musterschüler hinsichtlich einiger Punkte im Bereich des Meinungsbildungsprozesses Mängel auf – unter anderem bei gewissen Fragen der Transparenz, was aber hinsichtlich der (bislang) mehr oder weniger erfolgreich verfolgten Wahrung des Bankgeheimnisses kaum überraschen dürfte.
Den Medien kommt innerhalb der Gesellschaft eine bedeutungsvolle Rolle zu. Sie haben die Fähigkeit, die öffentliche Meinungsbildung direkt und in starken Masse zu beeinflussen, zu Handlungen anzuregen und gar politische Karrieren zu zerstören, was in der letzten Zeit zur Genüge unter Beweis gestellt worden ist. Das ist auch gut so. Und gerade aus diesem Grund drängt sich aus Sicht der Rezipienten die Notwendigkeit einer transparenten Angabe der Besitzverhältnisse von Medienunternehmen auf, wie es bereits anlässlich der Affäre Hildebrand von verschiedenen Schweizer Parteipräsidenten gefordert wurde. Das Volk soll, was in vielen Staaten leider immer noch nicht zum Usus geworden ist, informiert werden und sich so eine eigene Meinung bilden können. Es soll aber gleichzeitig auch elementare Informationen über ebendiese Informanten beziehen können – denn gewisse Botschaften erscheinen, je nachdem welcher Quelle sie zugeschrieben werden, in einem ganz anderen Licht. Natürlich kann man hier einwenden, dass es sich bei den Quellen um freie, unabhängige Autoren handelt. Dennoch bleibt ein fader Beigeschmack, wenn alle zwei Wochen ein bestimmtes Parteiprogramm von einem Magazin rauf- und runtergebetet wird, welches sich als unabhängig bezeichnet und zwecks öffentlicher Aufmerksamkeit mittels Unterstellungen und Unwahrheiten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens diffamiert. Das Volk hat und muss den Anspruch haben, über mögliche Interessenskonflikte, welche sich aus der Zusammensetzung der Inhaber und den vermittelten Inhalten der Medienhäuser ergeben können, im Bilde zu sein. Im Grunde genommen spricht lediglich ein Argument gegen diese Wertvorstellung – dagegen ist, wer etwas zu verbergen hat. So gesehen bei der Basler Zeitung, als nach langem Hin und Her publik wurde, dass Pate Blocher dort seine Marionetten installiert hat und im Hintergrund die Fäden zieht.
Die geforderte «Lex Weltwoche» tangiert, wie einige Kritiker monieren, keineswegs die Meinungs- oder Pressefreiheit. Den Autoren steht es weiterhin zu, unvoreingenommen ihre Aufgaben der Berichterstattung wahrzunehmen und ihre Sicht der Dinge zu schildern. Die einzige Änderung stellt die Tatsache dar, dass der Medienkonsument die Information im Kontext sieht und dementsprechend ganzheitlich betrachten kann – ganz im Sinne des öffentlichen Meinungsbildungsprozesses.
Hinzu kommt, dass eine Umsetzung dieser Vorlage richtungsweisend sein kann für das Vorgehen bezüglich weiterer politischer Missstände im Bereich der Transparenz. Die seit langem fällige rechtliche Verankerung der Finanzierung von politischen Parteien und Kampagnen, welche sowohl auf Bundes- als auch praktisch auf gesamter Kantonsebene fehlt, könnte so neuen Aufwind bekommen. Denn die von Reimann und Konsorten initiierte «Pseudo-Transparenz-Initiative» wird sich schlussendlich als kontraproduktiv erweisen und lediglich als Legitimation für die Nichteinleitung weiterer Schritte hinsichtlich der Finanzierung gelten. Die Schweiz hat, darf und muss solche Ansprüche als Musterschüler der gelebten Demokratie haben – und wird zum Nachsitzen im Fach Transparenz verdonnert.
Die Forderung der sechs Parteichefs an die Weltwoche, ihre Besitzverhältnisse offenzulegen, ist nicht viel mehr als eine kurzgedachte Trotzreaktion. Man mag von der Affäre Hildebrand halten, was man will, doch eines ist klar: Auch eine Offenlegung der Besitzverhältnisse bei der Weltwoche hätte an Hildebrands Rücktritt nichts geändert.
Was also hätte eine Lex Weltwoche für einen Nutzen? Nach CVP-Präsident Darbellay sei dadurch zu verhindern, dass in der Schweiz Zustände wie in Italien herrschen. Man will nicht, dass Politiker Medien als Propagandainstrument missbrauchen. Dies klingt vernünftig, werden doch die Medien oftmals als «vierte Staatsgewalt» betitelt. GLP-Präsident Martin Bäumle will deshalb, dass alle Medien offenlegen, wer bei ihnen Einfluss ausübt. So gut die Idee zunächst auch klingen mag, ihr Nutzen ginge gegen null und ihre Umsetzung wäre enorm schwierig.
In der Schweiz vermuten die Gegner von Christoph Blocher schon lange, dass er an der Weltwoche beteiligt ist. Selbst wenn an dieser Verschwörungstheorie tatsächlich etwas dran sein sollte: Was würde eine Offenlegung der Besitzverhältnisse ändern? Das Blatt positioniert sich klar am rechten Rand und wird mehrheitlich von Lesern, die in dieser politischen Region beheimatet sind, gelesen. Der interessierte Schweizer Bürger weiss, mit welchen Augen er Artikel dieses Magazins zu lesen hat. Genauso wie er weiss, dass die NZZ liberal und die WOZ links ist. Dazu ist die Offenlegung von Besitzverhältnissen nicht nötig.
Wenn Politiker wirklich «italienische Verhältnisse» verhindern wollen, müsste die ganze Problematik anders angegangen werden. Denn es ist auch bestens bekannt, dass in Italien ein Grossteil der Medien Silvio Berlusconi gehören. Trotzdem schränkte ihn dies nicht ein, die Medien zu seinen Zwecken zu nutzen. Wenn man wirklich verhindern will, dass Politiker Einfluss auf Medien ausüben, bedürfte dies weitaus anderer Gesetze und nicht bloss solcher, die auf die Problematik hinweisen.
Man stelle sich vor, jeder Klein- und Kleinstverlag müsste seine Besitzverhältnisse offenlegen. Das ist nicht bloss absurd, sondern auch mit unnötigem bürokratischem Aufwand verbunden. Zudem gibt es unzählige Wege, einen Verlag so zu finanzieren, dass im Endeffekt nicht klar ist, wer jetzt der wirkliche, endgültige Geldgeber ist. Überdies vergisst man schnell, dass Geld nicht die einzige Möglichkeit ist, Einfluss auszuüben. Die Verlagshäuser müssten auch alle Freundschaften und sonstigen Beziehungen der Redaktoren offenlegen, um eine Transparenz der Einflussnahme zu gewährleisten.
In der Schweiz ist die Meinungsfreiheit in der Bundesverfassung fest verankert. Jedermann darf schreiben, was er will. Eine Rechtfertigung, wieso man etwas schreibt, ist nicht erforderlich. Bloss weil von Journalist A ein Artikel erscheint, der Politiker B nicht gefällt, hat sich A noch lange nicht zu rechtfertigen, wieso er diesen Artikel geschrieben hat. Sobald also eine unpopuläre Meinungen publiziert wird, soll der ganze dahinterstehende Verlag eine Striptease vollziehen? Meinungsfreiheit sieht anders aus. Eine Lex Weltwoche klingt schön. Bei einer genaueren Betrachtung wird jedoch klar, dass die aus einer politischen Niederlage entstandene Forderung keinen wirklichen Nutzen mit sich bringt und sogar mit der Verfassung in Konflikt gerät.
Ausserdem: Ist es nicht äusserst fragwürdig, dass ausgerechnet von denselben Politikern, welche nicht einmal ihre eigenen Parteifinanzierungen offenlegen, gefordert wird, dass Verlage genau dies mit ihren Geldquellen tun sollten?